Atrium im Ratsgebäude
Reuters/Francois Lenoir
Hängepartie in Brüssel

Offene Punkte bei Marathonverhandlungen

Drei Tage ohne Einigung haben in Brüssel eine Verlängerung des EU-Gipfels nötig gemacht. Am Montagnachmittag gehen damit die EU-Staats- und -Regierungsspitzen in eine weitere Runde. Es geht um ein Finanzpaket von insgesamt 1,8 Billionen Euro. Die Stimmung ist gereizt – vor allem zwischen Frankreich und einer Gruppe von Ländern, der auch Österreich angehört.

Bei dem ersten physischen Treffen der EU-27 in Brüssel geht es um das EU-Budget bis 2027 sowie um das Hilfspaket gegen die Folgen der Pandemie. Das Paket soll vor allem stark betroffene Länder wie Italien unterstützen. Nach nächtlichen Verhandlungen wurden die weiteren Gespräche auf den späteren Nachmittag vertagt. Denn schon im Vorfeld des EU-Gipfels, der am Freitag begonnen hat, zeigten sich verhärtete Fronten.

Zuletzt drohte selbst der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, mit einem Veto der Volksvertretung gegen den Budgetdeal. Per Aussendung pochte Sassoli unter anderem auf eine ausreichende Dotierung des Budgets, neue Eigenmittel, einen Rechtsstaatsmechanismus sowie ein Ende der Budgetrabatte. „Das Europäische Parlament hat seine Prioritäten festgelegt und erwartet, dass sie erfüllt werden.“

Peter Fritz (ORF) aus Brüssel

Peter Fritz (ORF) analysiert die Knackpunkte des EU-Budgetgipfels.

Einigkeit in allen Punkten ist schwer herzustellen. Eine Gruppe von Nettozahlern – Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande, inzwischen verstärkt durch Finnland – leistet Widerstand gegen zu viele Hilfsgelder in Form von Zuschüssen. Sie plädieren dafür, dass die Hilfsgelder der EU in Reformen fließen müssen, und für einen größeren Anteil an Krediten, die zurückzuzahlen wären. Sie wollen von dem Investitionsprogramm mit dem Gesamtumfang von 750 Milliarden Euro höchstens 350 Milliarden an Zuschüssen gewähren. Die anderen 22 Mitgliedsstaaten stehen hinter einem Kompromissvorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel von 400 Milliarden Euro. Besonders Frankreich hatte sich gegen einen geringeren Zuschussanteil gewehrt.

Macron: Kurz „ist es egal“

Zuletzt legte Michel einen weiteren Kompromissvorschlag auf den Tisch, der 390 Mrd. an Zuschüssen vorsieht. Aus Ratskreisen hieß es, dazu gebe es bereits einen Konsens. Dafür könnte der EU-Budgetrabatt für Österreich weiter steigen. Nach dem bisherigen Entwurf hätte Österreich einen jährlichen EU-Budgetrabatt in Höhe von 287 Millionen Euro. Gänzlich unter Dach und Fach war der Kompromiss aber noch nicht. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sagte am Montag, man habe zumindest einen Rahmen für eine mögliche Einigung gefunden.

Die Stimmung bei den nächtlichen Verhandlungen war laut Aussagen von Anwesenden sehr gereizt: Besonders Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte Unmut über die Haltung von Ländern wie Österreich und insbesondere an Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). „Seht ihr? Es ist ihm egal. Er hört den anderen nicht zu, hat eine schlechte Haltung. Er kümmert sich um seine Presse und basta“, sagte Macron laut einem Bericht von „Politico“, als Kurz am Sonntagabend zum Telefonieren den Sitzungssaal verließ. Der SPÖ-Delegationsleiter im Europaparlament, Andreas Schieder, schämt sich indes für das kolportierte Verhalten von Kurz. „Der Vorwurf des französischen Präsidenten ist eigentlich ein bisschen zum Genieren“, kommentierte Schieder.

Auch an dem niederländischen Premier Mark Rutte übte Macron scharfe Kritik. Er verglich Rutte mit dem damaligen britischen Premier David Cameron bei früheren EU-Budgetverhandlungen. Diese Art des Verhaltens habe ein böses Ende, sagte der französische Präsident in Anspielung auf das von Cameron verlorene Brexit-Referendum.

Kurz „sehr zufrieden“

Die französische Delegation sprach auch von entsprechend schwierigen Verhandlungen. Kurz zeigte sich in der Früh hingegen „sehr zufrieden“ mit dem Ergebnis der „harten“ Verhandlungen, wie er auf Twitter mitteilte. „In Summe bin ich sehr froh“, sagte er im Ö1-Morgenjournal. Es sei gelungen, den Gesamtbetrag des Fonds „deutlich“ zu reduzieren – „eine unserer zentralen Forderungen“, so Kurz.

Gleichzeitig würden die österreichischen Rabatte „sehr stark“ ansteigen. Kurz hob den insgesamt „sehr professionellen“ Umgang aller miteinander hervor. „Dass da bei manchen, wenn sie vielleicht wenig schlafen, irgendwann die Nerven blank liegen, das ist nachvollziehbar.“ Auch Rutte sprach in der Früh von Fortschritten. Zugleich warnte er aber, dass ein Scheitern immer noch möglich sei.

Konflikt mit Polen und Ungarn

Es spießt sich aber nicht nur an den Coronavirus-Hilfen, sondern auch an ganz anderer Front. So ist bei der Frage des geplanten Rechtsstaatsmechanismus ein Konsens schwierig. Der Ursprung des Streits liegt im Konflikt Brüssels mit Ungarn und Polen: Die beiden Länder stehen wegen der Untergrabung von Werten wie der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz seit Jahren in der EU in der Kritik. Die EU-Kommission hat deshalb gegen beide Länder Strafverfahren eingeleitet, die bis zum Entzug der Stimmrechte auf EU-Ebene führen können.

Mark Rutte, Sebastian Kurz, Sanna Marin, Stefan Lofven und Mette Frederiksen
Reuters/Francois Walschaerts
Die Regierungsspitzen der Niederlande, Österreichs, Finnlands, Schwedens und Dänemarks

Für den neuen EU-Haushaltsrahmen schlug die Kommission vor, die Auszahlung von EU-Mitteln an die Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen – ein sensibles Thema. Ungarn und Polen lehnen diese Verknüpfung freilich vehement ab. Ein Änderungsvorschlag aus Budapest für das entsprechende Kapitel sah vor, die Bezeichnung „Rechtsstaatlichkeit“ zu streichen. Stattdessen war lediglich von „Unrechtmäßigkeiten“ oder „Betrug“ zulasten des EU-Haushalts die Rede. Mittelkürzungen sollten zudem durch ein einstimmiges Votum im Kreis der Mitgliedstaaten beschlossen werden müssen.

Vetodrohung aus Budapest

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban lehnte es auch ab, darüber beim Gipfel eine Entscheidung zu treffen. Es sei „fraglich, ob es dafür überhaupt eine Basis in den Verträgen gibt“, sagte er. Wenn ein Mechanismus zur Mittelkürzung wegen rechtsstaatlicher Verfehlungen eingeführt werden solle, würde das noch „Wochen“ an Verhandlungen erfordern. Orban drohte auch wiederholt mit einem Veto gegen das gesamte Finanzpaket, das von allen Mitgliedsstaaten gebilligt werden muss.

Kurz meldete sich am Sonntag mit der Warnung vor einem „faulen Kompromiss“ beim Rechtsstaatsmechanismus. Die Gruppe der kleineren Nettozahlerländer habe sich darauf verständigt, „dass wir hier an einer sehr klaren Position festhalten werden und eine gewisse Grenze auch nicht bereit sind zu unterschreiten“. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn nannte den Streit „unsäglich“. Die EU müsse aufpassen, dass Orban die Standards der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit nicht weiter nach unten ziehe. Das sei eine gefährliche Entwicklung.

„Zukunft Europas im 21. Jahrhundert“ auf dem Spiel

Ratspräsident Michel hatte unermüdlich für einen Kompromiss geworben und am Sonntagabend mit einem eindringlichen Appell versucht, ein Scheitern des Gipfels abzuwenden. Der Belgier verwies auf die zahlreichen Kompromissangebote und Zugeständnisse, die er seit dem Beginn des Treffens gemacht hatte. Zudem betonte er mehrfach, dass er allen Gipfelteilnehmern immer mit größtem Respekt zugehört habe. Er erinnerte an die beispiellose Krise, mit der die EU wegen der Pandemie konfrontiert sei, aber auch das zu erwartende negative Medienecho im Fall eines Scheiterns.

Es sei sein Wunsch, dass die Zeitungen titeln, die EU habe erfolgreich eine „Mission: Impossible“ gemeistert. Auch Frankreichs Finanzminister mahnte die Teilnehmer zur Kompromissbereitschaft. Aus Sicht von Bruno Le Maire steht „die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert“ auf dem Spiel. Eine Einigung auf dem EU-Gipfel sei möglich und „eine Notwendigkeit“, sagte er dem Sender BFM TV.

Wieser: „Je höher die Zuschüsse, umso besser ist es“

Der Ökonom Thomas Wieser drängte im Interview mit der ZIB2 am Sonntag auf einen möglichst hohen Zuschussanteil. „Je höher die Zuschüsse, umso besser ist es“, sagte der frühere Leiter der Euro-Arbeitsgruppe. „Die Höhe der Kredite ist in meinen Augen relativ belanglos“, fügte er mit Blick auf die Forderungen Österreichs und der anderen Nettozahler hinzu. Wieser sagte, die Höhe der „verlorenen Zuschüsse“ sei „wesentlich“. Kredite könnten die Mitgliedsstaaten nämlich auch über den Euro-Stabilitätsmechanismus (ESM) zu sehr günstigen Konditionen abrufen.

EU-Experte Wieser über den EU-Gipfel

Der frühere Sektionschef im Finanzministerium, Thomas Wieser, kennt Verhandlungen, wie sie derzeit beim EU-Gipfel in Brüssel stattfinden, aus nächster Nähe. Während der Finanzkrise war er federführend an Hilfspaketen beteiligt, später war er Koordinator der Euro-Zone. Thomas Wieser zu Gast in der ZIB2.

Wieser bezeichnete die Chancen auf eine Einigung beim laufenden EU-Gipfel mit „50:50“. Zugleich warnte er vor einem Scheitern der EU-Finanzverhandlungen in diesem Monat. „Wenn es im Juli nicht klappt, wäre es politisch ganz, ganz schlimm“, sagte er. Wieser trat auch Einschätzungen entgegen, wonach die Coronavirus-Hilfen der Einstieg in eine Schuldenunion seien. Genauso wie die Pandemie seien auch die Hilfen „ein Einmalereignis“.