Reykjavik
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Gewalt an Frauen

Kratzer an Islands Vorbildrolle

Wenn in Medien über Island berichtet wird, dann oft wegen der als Vorbild geltenden Gleichbehandlung in dem Land. So führt Island etwa seit über einem Jahrzehnt den „Gender Gap“-Index des Weltwirtschaftsforums an. Doch dem Ruf stehen relativ hohe Fallzahlen häuslicher Gewalt gegenüber – in der Krise hat sich das Problem nun offenbar weiter verschärft.

Eine aktuelle Studie hat die Situation in isländischen Notaufnahmen beleuchtet, wie das US-Magazin „Foreign Policy“ berichtet. Darin wird nicht nur auf die Häufigkeit eingegangen, sondern auch auf die Art der Verletzungen, die Frauen davontragen, die von ihrem Partner misshandelt werden. Die Studie zeichnet laut dem Magazin ein Bild, das ganz im Kontrast zum sonst vermittelten Abbild der isländischen Gesellschaft steht.

Und: Inmitten der Coronavirus-Krise dürfte sich die Situation zugespitzt haben. In dem 365.000-Einwohner-Land gab es im Zuge der ersten Phase der Ausgangsbeschränkungen innerhalb kurzer Zeit Berichte über zwei mutmaßliche Morde an Frauen. Wie der isländische Rundfunk RUV damals berichtete, gab es zwei Festnahmen, die Ermittlungen dauern noch an.

Hilfe im Krisenfall

Opfer sexueller Belästigung und Gewalt können telefonisch und im Internet Hilfe finden. Unter 0800 222 555 ist die Frauenhelpline gegen Gewalt erreichbar, die Männerberatung unter 01/603 28 28. Auf den jeweiligen Websites gibt es zudem viele Infos und Links. Im beruflichen Umfeld berät und unterstützt die Gleichbehandlungs-anwaltschaft.

In einem Land, in dem in den vergangenen zwei Jahrzehnten insgesamt überhaupt nur 37 Menschen getötet wurden, ist das zwar einerseits ein enormer Anteil – andererseits lassen sich wohl keine seriösen Aussagen darüber treffen, ob Frauen überdurchschnittlich oft ermordet werden. In den vergangenen 20 Jahren gab es 24 männliche und 13 weibliche Opfer – die jetzigen zwei mutmaßlichen Morde an Frauen sind darin noch nicht eingerechnet.

Ein Viertel Opfer von sexueller Gewalt

Deutlich präsenter ist dafür das Thema sexualisierte Gewalt in Island. Rund 23.000 Frauen beteiligten sich an einer Umfrage der Universität Island in Reykjavik. Das Ergebnis: Rund ein Viertel der Frauen gab an, in ihrem Leben bereits vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden zu sein. Das entspricht in etwa dem Durchschnitt der EU-Mitgliedsländer.

In dem Artikel, der von einer isländischen Forscherin und Leiterin einer Organisation, die sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt, mitverfasst wurde, wird auch die Situation in der isländischen Justiz beleuchtet. So dürfte vor allem Gewalt gegen Frauen und Kinder ein umstrittenes Thema sein – 2018 schlossen sich etwa 600 Frauen einem offenen Brief an die 2019 zurückgetretene Justizministerin an, die ihr einen unfairen Umgang mit Opfern von Gewalt vorwarfen. Auch in Sorgerechtsfragen sollen Vorwürfe von Gewalt nicht beachtet worden sein.

Das „Nordische Paradoxon“

Wie das US-Magazin „Foreign Policy“ berichtet, ist Island mit diesem Phänomen nicht allein: Auch in anderen skandinavischen Ländern ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Frauen zwar gerecht, im eigenen Haushalt werden sie aber öfter Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt.

Eine Studie bezeichnet diesen Kontrast als „Nordisches Paradoxon“: Laut einem „Harvard Political Review“-Artikel liegt das unter anderem an alten Rollenbildern, die in den skandinavischen Ländern tief verankert sind. Antiquierte Ansichten spiegelten sich teilweise auch noch lange in den Gesetzen wider: So wurden Vergewaltigungen durch den Ehepartner in Dänemark erst 2013 für illegal erklärt.

Führt größeres Bewusstsein zu mehr Anzeigen?

Verschiedene Auffassungen gibt es darüber, wie die höhere Gewaltrate in den skandinavischen Ländern zustande kommt. Eine Möglichkeit sei es, die höheren Zahlen mit dem größeren Bewusstsein für derartige Taten zu erklären, was dazu führe, dass diese öfter gemeldet werden. Diese Auffassung vertritt etwa Lucas Gottzen, der in Schweden zum Thema Männlichkeit forscht, gegenüber dem „Harvard Politcal Review“. In „Foreign Policy“ wird hingegen die These aufgebracht, dass sich Männer an der dort weit verbreiteten Geschlechtergerechtigkeit stoßen – und dann zu physischer Gewalt neigen, um praktisch die alte Rollenverteilung wiederherzustellen.

Legendärer Streik im Jahr 1975 als Vorbild

Während Island bei der Chancengleichheit sicherlich weiter als internationales Vorbild dasteht, ist das Land im Hinblick auf Gewalt gegen Frauen wohl nur im Mittelfeld – Aufholbedarf gibt es, sind sich Aktivistinnen einig.

Die Poleposition bei der Gleichberechtigung haben sich die Frauen in Island jedenfalls selbst erkämpft: Einem legendären Streik im Jahr 1975 haben sich 90 Prozent der Frauen in dem Land angeschlossen. Sie legten ihre Arbeit in Büros und in den Haushalten nieder und gingen auf die Straße, um auf ihren Beitrag aufmerksam zu machen. Der Tag gilt als einschneidender Moment in der isländischen Geschichte und als Wegbereiter für die heutige Vorbildrolle.

In dem „Foreign Policy“-Artikel heißt es abschließend: „Der wahre Test für Islands Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter wird sein, ob das Land beabsichtigt, Gewalt gegen Frauen anzuerkennen und ihr entgegenzutreten, und ob es den Willen hat, sein Justizsystem zu reformieren, um Frauen, die unter diesem Missbrauch leiden, zu glauben und zu respektieren.“