Menschen in der Wiener Innenstadt
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VfGH

Betretungsverbote teilweise rechtswidrig

Das vom Gesundheitsminister per Verordnung erlassene Betretungsverbot für öffentliche Orte war zu breit gefasst – und damit teilweise rechtswidrig. Zu dieser Einschätzung kam der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in seiner am Mittwoch veröffentlichten Entscheidung. Auch die selektive Öffnung der Geschäfte nach Ostern verstieß laut dem Höchstgericht gegen geltendes Recht.

Die Entscheidung des VfGH war mit Spannung erwartet worden, hängt an der Rechtsprechung des Höchstgerichts doch auch die Frage, wie mit vielen der bis 30. April verhängten Strafen wegen Verstößen gegen die Ausgangsbeschränkungen umzugehen ist. Nun scheint klar: Viele der Strafen, gegen die Einspruch erhoben wurde, werden wohl erlassen werden. Denn der VfGH stellte nicht nur klar, dass entscheidende Teile der Betretungsverbote verfassungswidrig waren, sondern hielt auch fest, dass diese Bestimmungen in laufenden Verwaltungsstrafverfahren nicht mehr angewandt werden dürfen.

Dabei hatten die Verfassungsrichter keine Bedenken gegen Paragraf zwei des Covid-19-Gesetzes, mit dem Betretungsverbote grundsätzlich ermöglicht wurden. So heißt es dort, dass per Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden kann, „soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist“. Mit seiner am 15. März erlassenen (und später bis 30. April verlängerten) Verordnung dazu hat Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) allerdings das Betreten öffentlicher Orte allgemein für verboten erklärt, mit den bekannten vier Ausnahmen (Berufsarbeit, Hilfe, dringende Besorgungen, Spaziergänge mit Haushaltsangehörigen).

Keine Grundlage für „allgemeines Verbot“

Ein „allgemeines Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ sei vom Covid-19-Gesetz aber nicht gedeckt gewesen, hieß es nun vom VfGH. Denn dieses biete keine Grundlage dafür, dass Menschen „dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben“. Es sei dem Minister „verwehrt, durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art. 8 EMRK) ein (…) Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen“.

Personenkontrolle durch die Polizei
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35.000 Anzeigen wurden laut Innenministerium zwischen Mitte März und Mitte Juni erstattet

Zulässig gewesen wären zur Eindämmung des Coronavirus nur Betretungsverbote für genau umschriebene Orte oder regional begrenzte Gebiete (wie Gemeinden). Unter besonderen Umständen könnte ein Ausgangsverbot zwar, wenn es verhältnismäßig ist, gerechtfertigt sein. Aber für eine derart weitreichende Einschränkung der Freizügigkeit wäre eine konkrete und näher bestimmte Grundlage im Gesetz nötig, stellte das Höchstgericht fest.

Frage der Strafen

Wie viele Strafen auf Basis der nunmehr aufgehobenen Verordnungsteile verhängt wurden, ist nicht bekannt. In einer Anfragebeantwortung vom Juli berichtete Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) von 35.000 Anzeigen zwischen 16. März und 17. Juni. Eine Reihe von Betroffenen hat Einspruch eingelegt – sie werden nun durch den VfGH-Entscheid gestärkt. Verfassungsrechtler Bernd Christian Funk sagte im Ö1-Mittagsjournal, wer rechtzeitig Rechtsmittel eingelegt habe, könne entsprechend von der Entscheidung profitieren. „Die Entscheidung erstreckt sich aber nicht auf bereits abgeschlossene Fälle“, so Funk.

Auch Peter Bußjäger, Professor am Institut für öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Uni Innsbruck, wies darauf hin, dass Strafen nicht automatisch hinfällig seien. Laut Bußjäger ist nach dem Verwaltungsstrafgesetz eine Rückzahlung möglich, wo offenkundig rechtswidrig bestraft wurde. Das sei aber eine Kann-Bestimmung. Die zuständigen Behörden müssten jedenfalls gleichbehandelnd vorgehen, könnten also nicht in einem Fall zurückzahlen, in einem anderen nicht. Für Einheitlichkeit zwischen den Behörden könnte der Gesundheitsminister mit einer Weisung sorgen.

Reaktionen der Regierung auf VfGH-Entscheid

Gesundheitsminister Rudolf Anschober sieht die VfGH-Entscheidung als wichtig für die weitere Arbeit.

Anschober kündigte am Mittwoch an, man werde im Ministerium die Entscheidung des VfGH nun genau prüfen und im Hinblick auf die erlassenen Strafen eine „bürgerfreundliche“ Lösung finden. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) zeigte sich am Mittwoch abwartend. Sie habe „höchsten Respekt und Anerkennung“ für das Erkenntnis, müsse es aber erst im Detail prüfen: „Wir werden die Lehren daraus ziehen“, so Edtstadler bei einer PK mit den Landeshauptleuten von Wien, Oberösterreich, Tirol und dem Burgenland. Die Landeshauptleute von Wien und Oberösterreich, Michael Ludwig (SPÖ) und Thomas Stelzer (ÖVP) drängten auf eine bundesweit einheitliche Lösung.

Verstoß gegen Gleichheitsgrundsatz

Anschober räumte ein, dass bei den Ausgangsbeschränkungen in der Eile Fehler passiert seien. Generell sei er aber sehr froh, dass das Covid-19-Maßnahmengesetz vom Verfassungsgerichtshof bestätigt wurde", sagte der Gesundheitsminister. Dass der VfGH auch die Geschäftsöffnung auf Raten als rechtswidrig beurteilt hatte, „nehmen wir zur Kenntnis“, so Anschober.

Die von der Regierung im Zuge der Wiederöffnung des Handels getroffenen Unterscheidungen hatten bei manch betroffenem Unternehmen für großen Ärger gesorgt. So durften etwa anfangs nur Geschäfte unter 400 Quadratmetern öffnen, die Größeneinschränkung galt allerdings nicht für Baumärkte. Der VfGH sah hier nun eine Ungleichbehandlung ohne sachliche Rechtfertigung – und hob die von Anschober erlassene „Lockerungsverordnung“ für den Handel auf. Das freilich nachträglich: Die Verordnung war nur von 14. bis 30. April in Kraft.

Menschen stehen in einer Schlange vor einem Baumarkt
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Baumärkte durften nach Ostern wieder öffnen – andere Geschäfte mit Verkaufsflächen über 400 Quadratmetern folgten erst später

Entfall der Entschädigungszahlungen verfassungskonform

Verfassungskonform war es jedoch laut VfGH, dass mit dem Covid-19-Gesetz dem Gesundheitsminister ermöglicht wurde, per Verordnung Betretungsverbote für Handelsbetriebe zu verhängen, um „die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen“, stellte der VfGH fest. Ebenfalls keinen Bruch der Verfassung sah das Höchstgericht in dem Umstand, dass das Covid-19-Gesetz die Entschädigungsansprüche des Epidemiegesetzes außer Kraft setzte.

Dass im Covid-19-Maßnahmengesetz kein Anspruch auf Entschädigung vorgesehen ist, verstoße weder gegen das Grundrecht auf Unversehrtheit des Eigentums noch gegen den Gleichheitsgrundsatz, konstatierten die Verfassungsrichter. Ein Betretungsverbot sei zwar ein „erheblicher Eingriff“ in das Eigentumsgrundrecht. Aber dieser sei nicht unverhältnismäßig, weil er in ein umfangreiches Hilfspaket zur Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie eingebettet sei.

Opposition erneuert Forderung nach Generalamnestie

Bestätigt in ihrer Kritik sah sich nach den VfGH-Entscheidungen die Opposition. Für den stellvertretenden SPÖ-Klubchef und Verfassungssprecher Jörg Leichtfried sei spätestens jetzt auch klar, dass viele Bürger „zu Unrecht bestraft wurden“. Für zu Unrecht verhängte Strafen und für alle gleich gelagerten Fälle verlangt Leichtfried eine Amnestie. Der stellvertretende SPÖ-Klubchef fordert die Regierung auch auf, für die erst am Dienstag präsentierten Maßnahmen wie die Ausweitung der Maskenpflicht „endlich gesetzes- und verfassungskonforme Verordnungen zu erlassen“.

FPÖ-Obmann Norbert Hofer sah das „virologische Quartett“ aus Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und den Ministern Rudolf Anschober (Grüne) und Karl Nehammer (ÖVP) für den „Verordnungspfusch“ verantwortlich. Die VfGH-Entscheidungen könnten die Republik nun teuer zu stehen kommen, warnte Hofer. Die Inhaber von Geschäften mit einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern könnten die Republik auf Schadenersatz klagen, und auch abgestrafte Bürger könnten vielleicht ihr zu Unrecht bezahltes Bußgeld zurückholen. Auch Hofer bekräftigte die Forderung nach einer Generalamnestie.

Dieser Forderung schloss sich auch der stellvertretende NEOS-Klubobmann Nikolaus Scherak an. „Die Leidtragenden dieser türkis-grünen Schlamperei sind jene Menschen, die hohe Strafen zahlen mussten, ohne jemals etwas falsch gemacht zu haben. Das Mindeste, das die Regierung tun könnte, ist sich bei den Betroffenen entschuldigen und ihnen ihre Strafe erlassen“, meinte Scherak. Er hielt der Regierung vor, „über Monate bewusst gesetzeswidrig gehandelt“ zu haben. Besonders schlimm sei, dass man die Regierung „Hunderte Male“ darauf hingewiesen habe.