Freiwillige helfen beim Aufräumen in den Straßen von Beirut, Libanon.
APA/AFP/Anwar Amro
„Welcher Staat?“

Freiwillige in Beirut packen an

Nach der Katastrophe mit mehr als 150 Toten in Beirut wächst der Druck auf die libanesische Regierung. In der Nacht auf Freitag kam es vereinzelt zu Protesten. Mehrere Menschen wurden bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften verletzt. Unterdessen wird weiter nach Vermissten gesucht und die teils verwüstete Stadt aufgeräumt.

„Wir geben alles, weil wir hoffen, noch Überlebende zu finden, die festsitzen“, sagte einer der Rettungshelfer. Bisher seien jedoch nur Leichenteile gefunden worden. Viele Länder haben Rettungsteams nach Beirut geschickt, das Angebot des österreichischen Bundesheers wird vorerst nicht benötigt, teilte das Ministerium am Freitag mit. Man sei allerdings jederzeit einsatzbereit. Im Libanon sind im Rahmen einer UNO-Mission derzeit rund 170 österreichische Soldaten stationiert.

In der Nacht auf Freitag versammelten sich wütende Einwohner und Einwohnerinnen, darunter Angehörige von Vermissten, an der Absperrung zum Hafen. Sie riefen: „Diese Regierung hat versagt.“ „Die Explosion war am Dienstag, und sie arbeiten noch immer langsam“, sagte einer der Demonstranten. „Wenn noch Lebende unter den Trümmern festgesessen sind, dann sind sie jetzt tot.“

Durch die zwei gewaltigen Explosionen am Dienstagabend wurden mindestens 150 Menschen getötet und Tausende verletzt. Explodiert waren nach den Behördenangaben 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, das jahrelang ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen in einer Lagerhalle am Hafen untergebracht gewesen war. Viele Krankenhäuser sind schwer beschädigt und mit der Versorgung der Verletzten völlig überlastet, große Teile der Stadt sind verwüstet oder beschädigt.

Freiwillige helfen beim Aufräumen in den Straßen von Beirut, Libanon.
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Der Schutt auf den Straßen wird von den Einheimischen weggeräumt

Einwohner vermissen „richtigen Staat“

Bei den Aufräumarbeiten und der Aufnahme von Obdachlosen – die Zahl wird auf rund 300.000 geschätzt, darunter 80.000 Kinder – organisiert sich die Bevölkerung nun häufig selbst. „Welcher Staat? Hätten wir einen richtigen Staat, dann wäre er auf den Straßen beim Aufräumen gewesen“, sagte eine freiwillige Helferin gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Auch ein anderer Helfer sagte, dass er bisher keine Regierungsvertreter gesehen habe, die an Ort und Stelle helfen. Es seien die Zivilisten, die die Stadt aufräumen.

In Sozialen Netzwerken werden derzeit viele Fotos und Videos geteilt, auf denen Aufräumarbeiten zu sehen sind. Ausgestattet mit Besen, Schaufeln und Schutzmasken gegen das Coronavirus wird die Stadt von den Trümmern befreit und Schutt weggeräumt. Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt, die noch ein Zuhause haben, bieten den Opfern der Explosion Schlafmöglichkeiten, Essen und Wasser an. Regierungsbeamte hätten kleinere Zivilschutzteams und Lastwagen an den Ort des Unglücks geschickt, um die Aufräumarbeiten der Zivilisten und Zivilistinnen zu unterstützen.

Freiwillige helfen beim Aufräumen in den Straßen von Beirut, Libanon.
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Vor allem jüngere Menschen beteiligen sich an den Aufräumarbeiten

„Wir schicken Menschen in die zerstörten Häuser, um die Älteren und Schwachen rauszuholen. Wir suchen dann eine Schlafmöglichkeit“, sagte ein Freiwilliger. „Wir haben keinen Staat, der diese Schritte macht. So müssen wir das in die Hände nehmen.“ In Sozialen Netzwerken werden kostenlose Reparaturen angeboten.

Notversorgung geplant

Wegen der drohenden Lebensmittelknappheit plant das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) eine Notversorgung. Geliefert werden sollten Weizenmehl und Getreide für Bäckereien und Mühlen. Zudem sollten Tausende Familien mit Lebensmittelpaketen versorgt und dem Land logistische Unterstützung angeboten werden.

Freiwillige helfen beim Aufräumen in den Straßen von Beirut, Libanon.
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Auf den Staat, der laut vielen Menschen quasi nicht existiert, sei kein Verlass

Das WFP ist besorgt, dass die Explosion und der Schaden am Hafen, wo auch der Getreidespeicher zerstört wurde, die ohnehin schon düstere Ernährungssituation, die sich durch die schwere Finanzkrise des Landes und die Coronavirus-Pandemie zusätzlich verschlechtert habe, noch weiter verschärfen werde. Der Vatikan hat der römisch-katholischen Kirche eine Spende in Höhe von 250.000 Euro zukommen lassen – mehr dazu in religion.ORF.at.

Umstrittener Besuch von Macron

Am Donnerstag besuchte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Stadt und forderte Maßnahmen gegen die ausufernde Korruption im Land. Er sprach von einer „historischen Verantwortung“ der Führung des Landes. Er forderte „starke politische Initiativen“, um gegen die Korruption und die Undurchsichtigkeit des Bankensystems zu kämpfen. Die „politische, moralische, wirtschaftliche und finanzielle Krise“ müsse mit „extrem schnellen Reaktionen“ bewältigt werden. Der Libanon war früher Teil des französischen Mandatsgebiets im Nahen Osten, die beiden Länder sind immer noch eng verbunden.

Frankreich will eine internationale Geberkonferenz organisieren, die EU sagte bereits zu. EU-Ratspräsident Charles Michel und der Kommissar für humanitäre Hilfe, Janez Lenarcic, würden an der Videokonferenz am Sonntag teilnehmen. Michel will zuvor am Samstag nach Beirut reisen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. „Schockiert und betrübt stehen wir allen Betroffenen zur Seite und werden Hilfe leisten“, schrieb Michel auf Twitter.

„Warum sind Sie gekommen?“

Bei einer Tour durch eine zerstörte Gegend im Zentrum von Beirut wurde Frankreichs Staatschef von wütenden Anrainern und Anrainerinnen empfangen. „Warum sind Sie gekommen?“, riefen einige von Balkons herunter. „Ihr seid alles Mörder“, schrie eine Frau unter Tränen. „Wo waren Sie gestern? Wo waren Sie am Vortag? Wo waren Sie, als diese Bomben im Hafen gelagert wurden?“

Andere beschimpften den libanesischen Präsidenten Michel Aoun als „Terroristen“. Wütenden Libanesen versprach Macron auf der Straße, am 1. September wiederzukommen. Eine Frau entgegnete Macron, dass die französische Regierung gerade jenen Politikern im Libanon Geld gibt, denen man nicht vertraut. Macron antwortete: „Ich weiß.“

Präsident Aoun sagte am Freitag: Es sei möglich, dass die Explosionen durch „Fahrlässigkeit oder durch äußere Einwirkung, mit einer Rakete oder einer Bombe“, ausgelöst wurden. Auf die Frage, ob er gegen eine internationale Untersuchung sei, antwortete Aoun mit „natürlich“. Eine solche Untersuchung würde „die Wahrheit verwässern“.