Javier Bardem (left) as „Leo“ and Laura Linney (right) as „Rita“ in director Sally Potter’s THE ROADS NOT TAKEN, a Bleecker Street release. Credit : Jeong Park / Bleecker Street
Universal Pictures
„Wege des Lebens“

Früher Verfall und reuige Erinnerung

Javier Bardem spielt einen Mann, der aufgrund einer mentalen Erkrankung den Kontakt zur Realität zunehmend verliert – und den seine Tochter nicht mehr allein lassen kann. „Wege des Lebens – The Roads Not Taken“ ist für Regisseurin Sally Potter („Orlando“) ein ganz persönlicher Film.

Was wäre gewesen, wenn? Das ist der Konjunktiv II, der auch Irrealis genannt wird, weil eben nicht möglich ist, was er ausdrückt: Was wäre passiert, hätte sich Leo (Bardem) damals anders entschieden, und wäre er damals zu seiner Jugendliebe (Salma Hayek) nach Mexiko zurückgekehrt? Oder wenn er sein großes Buch doch geschrieben hätte, damals auf dieser griechischen Insel?

In „Wege des Lebens – Roads not Taken“ spielt Bardem den Schriftsteller Leo, der als junger Mann illegal aus Mexiko in die USA gekommen ist. Jetzt, ein halbes Leben später, vegetiert er in New York City in seinem alten Apartment dahin. Eine Art frühzeitiger Demenz hat Leo zum Pflegefall gemacht. Er kann nicht mehr für sich sorgen, und immer dann, wenn er abwesend wirkt, erlebt er eines dieser Leben, die passieren hätten können.

Viel zu jung, und trotzdem dement

Leos Wirklichkeit ist viel prosaischer: Mehrmals am Tag kommt eine Pflegerin (Branka Katic), um nach ihm zu sehen, und an diesem einen Tag, den der Film beschreibt, will seine Tochter Molly (Elle Fanning) mit ihm zum Zahnarzt und zum Augenarzt – doch was für gesündere Menschen kein Problem ist, wird mit dem desorientierten, völlig verzagten Leo zur Tour de Force.

Als Bardem die Rolle angeboten bekam, war er zuerst irritiert, sagte er gegenüber ORF.at: „Ich mochte das Skript, aber war verwirrt: Ich bin doch keine 90 Jahre alt, warum soll ich das spielen? Ich bin doch viel zu jung für Alzheimer!“ Die Krankheit, die Leo im Film hat, ist jedoch nicht Alzheimer, sondern frontotemporale Demenz, auch bekannt als Morbus Pick, die unter 60 Jahren auftritt. „Ich wusste davon nichts und habe dann bei der Recherche Patientinnen und Patienten und ihre Familien getroffen – und es hat sich mir eine völlig unbekannte Welt eröffnet“, so Bardem.

Schauspieler Javier Bardem und Regisseurin Sally Potter am Set von „The Roads not Taken“.
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Bardem mit Regisseurin Potter in der mexikanischen Wüste

Für Regisseurin Potter, die den Film im Berlinale-Wettbewerb im Februar präsentierte, ist es ein sehr persönlicher Film: Ihr Bruder hatte unter dieser Form der Demenz gelitten, und Potter hatte jahrelang für ihn gesorgt. „Vieles am Film war herzzerreißend für Sally“, sagte Bardem, „aber für den Film mussten wir Leos Demenz finden, nicht die von Sallys Bruder, oder die der Leute, die ich in der Einrichtung kennengelernt habe.“

Fanning als Fels in der Brandung

Schauspielerisch war die Rolle des Leo eine spezielle Herausforderung, so Bardem: „Üblicherweise bereite ich mich auf eine Rolle mit einem Maximum an Information und Kontrolle vor und weiß genau, wo ich als Nächstes hingehen muss, was der Figur vorher passiert ist, was als Nächstes geschieht, kenne die Dialoge, die Beziehung zu den anderen Charakteren. Hier war es das genaue Gegenteil: Ab dem Moment, wo es ‚Action‘ hieß, musste ich alles vergessen und losgehen.“

Geistige Beeinträchtigungen darzustellen ist immer eine heikle Angelegenheit. Bardem gelingt das gut, den Film hält jedoch Fanning in der Rolle der Tochter Molly zusammen: Sie hat an diesem einen, stressigen Großstadttag eigentlich berufliche Termine, die jedoch an der Unberechenbarkeit der Krankheit ihres Vaters scheitern, und kümmert sich mit stiller Kraft und wachsender Verzweiflung um ihn.

Bardem hat viel Lob für seine junge Schauspielkollegin: „Ich hätte das ohne ihre Professionalität und Sicherheit nicht tun können. Sie hat die meiste Zeit nicht gewusst, wo es mich hintreiben wird, aber sie spielte immer punktgenau, auch wenn ich ohne Vorwarnung hingefallen oder weggelaufen bin.“

Szene aus dem Film „The Roads not Taken“.
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Einmal noch umentscheiden dürfen: Leo (Bardem) fantasiert eine andere Version der Vergangenheit an der Seite seiner Jugendliebe Dolores (Hayek)

Diese Zeitebene der Gegenwart ist die stärkste im Film, nicht nur dank Fanning, das mit dem Hinfälligen allein gelassene Einzelkind, das in den privaten Dingen des Vaters unerklärliche Erinnerungsgegenstände findet, das es nicht zuordnen kann. Ihre Mutter ist nicht verantwortlich für das Wohl dieses Mannes: Laura Linney spielt Leos Exfrau, längst in einer neuen, glücklicheren Partnerschaft, die von Molly in einem Moment der Not zu Hilfe gerufen wird. Wer kümmert sich, wenn jemand nicht mehr alleine kann?

An der Vergangenheit scheitern

Linneys Figur wirft eine ganz neue Frage auf: Muss man jemandem gegenüber fürsorglich sein, der einen früher einmal übel behandelt hat, auch wenn diese Person jetzt total hilfsbedürftig ist? Für wen tut man es, wenn man sich doch erweichen lässt – für sich selbst? Diese Gegenwart, in der Bardem nicht mehr souverän, leidend, selbstmitleidig oder charmant ist, sondern für die Menschen um ihn herum in seiner Unberechenbarkeit nicht einzufangen ist, die ist in ihrer Kompromisslosigkeit am spannendsten.

Unglücklicherweise ist da jedoch noch Potters Drehbuchidee der beiden irrealen Vergangenheiten, dazwischen geschoben wie Fremdkörper, bei denen unklar ist, was davon Erinnerung ist, was reuevolles Was-wäre-gewesen-wenn und was von Leos zunehmend brüchigem Bewusstsein schlicht erfunden wird. Diese zwei Ebenen wollen nicht recht gelingen. Zumindest wird klar: Dieser Leo war offenbar kein besonders guter Vater und kein anwesender Partner, sondern ein am eigenen Schreiben leidender Narzisst, der lieber mit zu jungen Frauen flirtete, anstatt für seine Familie da zu sein.

Trotz der fantastischen Schauspielleistungen gerät der Film brüchig. Zumindest mit der Besetzung von Bardem mit seinem zerfurchten, attraktiven Gesicht ist Potter aber ein Coup gelungen, der plakativ deutlich macht: Egal wie schön und erfolgreich wir einmal waren, der Verfall erwartet uns alle.