MV Rhosus
AP/Antony Vrailas
Beispiel Beirut

Aufgegebene Schiffe als Zeitbomben

Eine Ursache der verheerenden Explosion in Beirut war offenbar Schlamperei. Jahrelang lagen fast 3.000 Tonnen gefährliche Chemikalien ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen, bis es zur Katastrophe kam. Begonnen hatte aber alles mit dem Stranden eines Schiffs. Dessen Geschichte sei bei Weitem kein Einzelfall, heißt es in einer Analyse im britischen „Guardian“ – aber sie sei in vielen Punkten symptomatisch.

Bei zwei aufeinanderfolgenden Detonationen kamen am 4. August mehr als 180 Menschen ums Leben, 6.000 weitere wurden verletzt, große Teile des Stadtgebietes wurden schwer beschädigt, Hunderttausende Einwohnerinnen und Einwohner verloren nach offiziellen Angaben ihre Wohnungen.

Als Auslöser gilt ein Brand, der 2.750 Tonnen in einer Halle auf dem Hafengelände gelagertes Ammoniumnitrat zur Explosion brachte, eine Chemikalie, die zur Herstellung von Dünge- und auch Sprengmitteln verwendet wird. Mehrere mutmaßlich Verantwortliche sind in Haft. Ihnen wird Fahrlässigkeit unter verschiedenen Paragrafen vorgeworfen.

Die Odyssee der „MV Rhosus“

Eine „Schuldige“ war aber auch die „MV Rhosus“, ein Frachter, 2013 im Hafen der libanesischen Hauptstadt gestrandet, dessen Ladung später in der Lagerhalle vergessen wurde. Der „Guardian“ zeichnete zuletzt die Geschichte des Schiffes nach und zog Vergleiche zu anderen aufgegebenen Schiffen, die mitunter zu tickenden Zeitbomben werden. Die Odyssee des Frachters war nach der Katastrophe von Beirut in Grundzügen bekanntgeworden.

Gesunkene MV Rhosus
Reuters/Maxar Technologies
Die „MV Rhosus“ auf einem Luftbild: Irgendwann gesunken im Hafen von Beirut

Die Probleme an Bord des Schiffs hätten praktisch schon begonnen, als der damalige Kapitän Boris Prokoschew in Georgien mit Ziel Mosambik ausgelaufen sei. Er habe entdeckt, dass der Frachter technisch desolat gewesen sei. Dann fehlte Geld für die Crew und die Fahrt durch den Sueskanal, so habe sich der russische Kapitän entschieden, dafür in Beirut zusätzliche Ladung aufzunehmen. Allerdings setzten die libanesischen Behörden die „MV Rhosus“ wegen technischer Schäden und offener Hafengebühren fest.

Crew als „Gefangene“ an Bord

Der russische Frachter, unterwegs unter moldawischer Flagge und damals im Besitz eines russischen Geschäftsmanns mit Wohnsitz Zypern, war gestrandet. Der Kapitän habe den Eigentümer noch um Hilfe gebeten, dieser habe sich aber schlicht nicht mehr gemeldet. Die Crew sei Monate auf dem Schiff „gefangen gewesen“.

Schiffsfriedhof
Reuters/Shannon Stapleton
Wilde Schiffsfriedhöfe werden oft erst nach Jahren zur Bedrohung

Die Behörden hätten die Beschlagnahmung des Ammoniumnitrats und wegen dessen Gefährlichkeit eine Entladung des Frachters angeordnet. Was dann geschah (oder unterlassen wurde), ist derzeit Gegenstand der Ermittlungen der libanesischen Behörden. Die „MV Rhosus“ soll „2015 oder 2016“ im Hafen von Beirut gesunken sein, berichtete die „New York Times“ nach einem Gespräch mit Prokoschew nach dem Unglück in Beirut.

Offenbar immer mehr Fälle

Diese Tragödie habe eine Schattenseite der Schifffahrtsindustrie offenbart, schrieb der „Guardian“. Jedes Jahr würden Hunderte Seeleute von Schiffseigentümern im Stich gelassen, „unbezahlt und gestrandet“. „Skrupellose“ Reeder würden Schiffe einfach aufgeben, ihre Crews zu Geiseln machen, mitunter noch mit gefährlicher Fracht an Bord. Zumindest 5.767 Seeleute auf 438 Schiffen seien seit dem Jahr 2004 derart gestrandet, schrieb die britische Tageszeitung unter Berufung auf Daten der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) der UNO. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen, nachdem nicht alle Fälle gemeldet würden.

Schiffe einfach aufzugeben sei eine Art „Krebsgeschwür“ der Schifffahrtsindustrie, zitierte der „Guardian“ Mohammed Arachedi, Regionalkoordinator für den Nahen Osten bei der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF). Entsprechende Meldungen, etwa für den arabischen Raum, würden immer häufiger. Er bearbeite die Fälle von 15 solchen Schiffen, gestrandet im Libanon, dem Sudan, dem Jemen, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), dem Iran, Ägypten und Kuwait. Im laufenden Jahr sein 470 Seeleute auf 31 Schiffen betroffen gewesen. Ein Schiff, das seit sieben Monaten im Hafen von Beirut liege, sei der Katastrophe dort nur knapp entronnen.

Katastrophen „natürlich“ möglich

Eine Zeitbombe, die noch rechtzeitig entschärft worden sei, sei etwa ein spanischer Frachter in schlechtem Zustand mit Flüssiggas an Bord im Hafen von Manila (Philippinen) gewesen. Nur nach Intervention der ITF und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der UNO sei die Crew an Land gebracht worden.

Zerstörte Gebäude im Hafengebiet von Beirut
APA/AFP/Anwar Amro
Der Hafen von Beirut glich nach dem Unglück einem Trümmerhaufen

Schiffe aufzugeben könne „natürlich“ zu weiteren Katastrophen wie der in Beirut führen, so Arrachedi gegenüber dem „Guardian“. Die schlechte Behandlung von Crews mit entsprechender Fehleranfälligkeit und gefährlicher Fracht an Bord sei eine „explosive“ Mischung.

Verworrene Wege und wechselnde Flaggen

In vielen Fällen könnten die Crews ihre Schiffe nicht verlassen, ohne ihren Anspruch auf Lohn aufzugeben. Kommt es zu Gerichtsverfahren, dauerten diese oft Jahre. Dazu kommen verworrene Wege. Das Schiff, das im Hafen von Beirut liegt, gehört laut „Guardian“ einer türkischen Reederei, die nicht auf Anfragen reagiere. Es fährt unter der Flagge Maltas. Stichwort Flagge: Besonders häufig seien Fälle von Schiffen, die mit Billigflaggen („flags of convenience“) unterwegs sind. „Ausgeflaggte“ Schiffe wechseln – aus unterschiedlichen Gründen – ihre Nationalität, aber nicht ihre Eigentümer.

Prokoschew, mittlerweile 70 Jahre alt, habe sich von der Katastrophe tief betroffen gezeigt und mitschuldig gefühlt, obwohl die gefährliche Fracht schon lange nicht mehr in seiner Verantwortung war. Verantwortlich dafür machte er die „Dummheit“ der libanesischen Behörden. Sie hätten gewusst, was im Lagerraum lag, und sehen müssen, dass sie das Schiff möglichst rasch „loswerden“, es also weiterfahren lassen, damit die Chemikalien an Bord als Kunstdünger im Bestimmungsland Mosambik hätten ankommen können. Ammoniumnitrat ist entzündlich und explosiv, es wird auch in industriellen Sprengstoffen verwendet.

Inzwischen wurden in Zusammenhang mit der Katastrophe vom 4. August in Beirut mehrere Menschen festgenommen, unter anderen der Leiter des Hafens von Beirut sowie sein Vorgänger, der Leiter des Zolls im Hafen und zumindest 13 weitere Personen.