Alexander Murakhovsky, Chefarzt im „Omsk Emergency Hospital No. 1“, in dem der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny momentan behandelt wird.
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Gift im Blut

Widersprüchliche Informationen zu Nawalny

Ist der prominente Kreml-Kritiker Alexej Nawalny vergiftet worden? Seinen russischen Ärzten zufolge gebe es dafür bisher „keine Anzeichen“, vielmehr leide er unter einer Stoffwechselstörung. Anders die Angaben vom Team des 44-Jährigen: In dessen Blut konnte ein vermutlich „tödlicher Stoff“ festgestellt werden, hieß es unter Berufung auf einen Polizeibeamten. Eine geplante Verlegung in das Berliner Krankenhaus Charite ließ die Klinik im sibirischen Omsk zuvor nicht zu.

Die Stoffwechselstörung sei die Hauptdiagnose für den 44-Jährigen, sagte der ärztliche Klinik-Leiter Alexander Murachowski am Freitag. Ursache für die Stoffwechselerkrankung sei ein niedriger Blutzuckerwert Nawalnys. Allerdings seien an Kleidung und Finger des Patienten auch Spuren von „industriellen chemischen Substanzen“ gefunden worden. Im Zuge einer früheren Pressekonferenz sprach Murachowski noch von fünf möglichen Diagnosen. Ergebnisse von durchgeführten Tests würden binnen zwei Tagen vorliegen, hieß es. Eine Frage nach der Vergiftung des Kreml-Kritikers wollte der Arzt nicht kommentieren.

„Bisher wurde kein Gift im Blut und Urin gefunden“, sagte zudem der stellvertretende Chefarzt des Omsker Krankenhauses, Anatoli Kalinitschenko, vor Journalisten. Kalinitschenko hob hervor: „Wir glauben nicht, dass der Patient vergiftet wurde.“ Nawalnys Frau und sein Bruder seien bereits informiert worden. Der 44-Jährige kämpft weiterhin um sein Leben. Er wurde im Koma künstlich beatmet, hieß es.

Der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny.
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Nawalny hatte auf einem Flug von Sibirien nach Moskau große Gesundheitsprobleme bekommen

Nawalny-Team: Mittel auch für Umfeld gefährlich

Nawalnys Ärztin, Anastassija Wassiljewa, teilte via Twitter mit, dass ein niedriger Blutzucker und eine Stoffwechselstörung keine Diagnose, sondern eine Zustandsbeschreibung seien. Nawalnys Blutzucker sei im normalen Bereich gewesen. „Sie verkaufen uns wieder einmal für Idioten: sagen kluge allgemeine Worte, aber können nicht den Grund für das Koma sagen und eine Diagnose erstellen“, schrieb sie.

Der Chef von Nawalnys Antikorruptionsfonds, Iwan Schdanow, sagte zudem, dass die Polizei den Ärzten mitgeteilt habe, dass sie ein „tödliches Mittel“ gefunden hätten. Das Gift sei nicht nur gefährlich für Nawalny, sondern auch für die Umgebung, weshalb das Tragen von Schutzanzügen angewiesen worden sei, sagte er.

Nawalnys Team veröffentlichte den Auftritt Schdanows und der Frau des Politikers als Video. Wegen der laufenden Ermittlungen sei nicht mitgeteilt worden, um welchen Stoff es sich handle, sagte Schdanow. Unklar war, wo die Polizei das Mittel gefunden habe. Aber ein Polizist habe es dem Chefarzt auf seinem Mobiltelefon gezeigt.

Journalisten vor dem "Omsk Emergency Hospital No. 1.
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Nawalny wird im Krankenhaus der sibirischen Großstadt Omsk, 2.200 Kilometer östlich von Moskau, behandelt

Kreml bestreitet Einflussnahme

Aus Nawalnys Team hieß es, mit dem Verbot einer Verlegung nach Berlin wollten die russischen Behörden Zeit gewinnen, damit ein Giftnachweis im Körper unmöglich werde. Seine Frau Julia schrieb dazu auch einen Brief an Kreml-Chef Wladimir Putin. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch sagte, die Ärzte hätten ihre Zusage, wonach Nawalny im Ausland behandelt werden könne, in letzter Minute wieder zurückgezogen. Das habe sicher politische Motive: „Diese Entscheidung wurde natürlich nicht von den Ärzten, sondern im Kreml getroffen.“

Der Kreml dementierte bereits: „Das ist ausschließlich eine medizinische Angelegenheit“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag der Agentur TASS zufolge. „Wahrscheinlich gibt es irgendwelche Formalitäten, die noch notwendig sind. Aber es gibt für niemanden irgendwelche Hindernisse. Das ist die Entscheidung des behandelnden Arztes.“

Der Chefarzt der Omsker Klinik gab zuvor an, dass sich Nawalnys Zustand zwar verbessert habe, für einen Transport sei er jedoch nicht stabil genug. Auch gebe es zahlreiche rechtliche Fragen, die vor einer Übergabe Nawalnys an europäische Ärzte geklärt werden müssten. Es sei für ihn tödlich, in dem Krankenhaus „ohne Ausrüstung oder Diagnose“ zu bleiben, so die Sprecherin.

Alexei Nawalny’s Frau Yulia beim „Omsk Emergency Hospital No. 1“.
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Nawalnys Frau wurde den Ärzten zufolge über die Diagnose informiert, dessen Team spricht aber weiterhin von einer Vergiftung

Vergifteter Tee?

Nawalny wird in dem Krankenhaus in der sibirischen Stadt Omsk, die 2.200 Kilometer östlich von Moskau liegt, behandelt. Der prominente Antikorruptionskämpfer und erbitterte Gegner des russischen Präsidenten hatte während des Rückflugs vom sibirischen Tomsk nach Moskau plötzlich das Bewusstsein verloren. Deswegen musste das Flugzeug in Omsk notlanden.

Nawalnys Sprecherin Jarmysch hatte daraufhin den Vorwurf erhoben, der Aktivist sei „absichtlich vergiftet“ worden. Jarmysch sagte, Nawalny habe auf dem Flughafen nur einen schwarzen Tee getrunken.

Weiter Hoffnung auf Überstellung nach Berlin

Der Kreml-Kritiker soll mit einem Spezialflugzeug zur Behandlung nach Berlin geflogen werden. Am Freitagnachmittag hieß es, dass die deutschen Ärzte, die Nawalny nach Deutschland begleiten sollten, Zugang zum Kreml-Kritiker erhalten hätten. Nach Angaben seines Vertrauten, Leonid Wolkow, sei das ein positives Zeichen. „Wir sind jetzt ein wenig optimistisch“, sagte Wolkow. „Wir sind aber noch weit von einer Lösung entfernt.“ Nawalny müsse nach Berlin gebracht werden, um unabhängig prüfen zu können, was ihm widerfahren sei.

Deutschland ist nach Angaben von Außenminister Heiko Maas auch weiterhin zu dessen Aufnahme und Behandlung bereit. Ein Ärzteteam aus Deutschland sei bereits in der Omsker Klinik eingetroffen, vermeldete die Nachrichtenagentur Reuters.

Der Filmproduzent Jaka Bizilj, auf dessen Initiative der Versuch gestartet wurde, Nawalny auszufliegen, hatte bereits im Jahr 2018 dabei geholfen, den vergifteten Putin-Kritiker Pjotr Wersilow von der Künstlergruppe Pussy Riot zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. „Auch bei diesem Transport vor zwei Jahren hatte es Verzögerungen gegeben und am Ende klappte alles“, sagte er.

Merkel und Macron besorgt

„Die Behörden verzögern absichtlich die Diagnose und verweigern Alexeys Transport zur deutschen Klinik. Typisches Beispiel für die Haltung des Kremls gegenüber dem menschlichen Leben. Sieht aus wie der Versuch, Spuren zu verbergen“, schrieb Litauens Außenminister Linas Linkevicius am Freitag auf Twitter.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und der französische Staatschef Emmanuel Macron äußerten sich äußerst besorgt über den Gesundheitszustand des Putin-Kritikers. Merkel sprach von einem „sehr besorgniserregenden Zustand“. Die Kanzlerin wie auch Macron forderten eine Aufklärung der Umstände von Nawalnys Erkrankung. EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte, wenn sich der Verdacht einer Vergiftung bestätige, müssten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und forderte eine „schnelle, unabhängige, transparente“ Untersuchung. Als „sehr besorgniserregend“ wurde die Causa auch von einer UNO-Sprecherin bezeichnet.

Peskow wünschte Nawalny eine baldige Genesung. Nawalnys Sprecherin machte Putin für die von ihr angenommene Vergiftung verantwortlich. Ob der Staatschef den Befehl dazu „persönlich gegeben hat oder nicht, die Schuld liegt bei ihm“.

Nawalny wurde bereits mehrfach attackiert

Nawalnys Stiftung deckt immer wieder Fälle von Korruption und den dekadenten Lebensstil von Mitgliedern der russischen Elite auf. Nawalny wurde schon mehrfach festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Vor seiner jetzigen Erkrankung befand er sich auf einer Reise durch Russland, um die Wahl von Putin-Unterstützern bei Regionalwahlen im September zu verhindern. Er warb für seine Strategie einer so bezeichneten „klugen Abstimmung“, die darauf gerichtet ist, jede beliebige Partei zu wählen – nur nicht die Kreml-Partei Geeintes Russland.

Nawalny war in der Vergangenheit zudem bereits mehrfach physisch attackiert worden. 2017 wurde er am Auge verletzt, als Angreifer ihn vor seinem Büro mit einer antiseptischen grünen Flüssigkeit besprühten. Im August 2019 erlitt Nawalny in Polizeigewahrsam Hautausschläge, sein Gesicht schwoll an. Ärzte im Krankenhaus sagten anschließend, er habe eine allergische Reaktion erlitten, doch Nawalny forderte Ermittlungen wegen einer Vergiftung.