Kreml in Moskau
Reuters/Maxim Shemetov
Nawalny im Koma

Kreml stellt Diagnose infrage

Der bekannte russische Regierungskritiker Alexej Nawalny liegt seit Tagen im Koma, deutsche Medizinerinnen und Mediziner gehen von einer Vergiftung aus – wie der Verdacht von Anfang an bestand. Der Kreml betrachtet die Diagnose als voreilig und will keine „leeren Erklärungen“. Stattdessen will Moskau eine Verstrickung „ausländischer Staaten“ in die Causa prüfen.

Die russische Staatsführung zieht jedenfalls Testergebnisse der renommierten Berliner Klinik Charite in Zweifel, wonach Nawalny vermutlich vergiftet wurde. „Wir verstehen nicht, warum es unsere deutschen Kollegen so eilig haben, das Wort ‚Vergiftung‘ zu verwenden“, sagte der Sprecher des Kreml, Dmitri Peskow, am Dienstag in Moskau der Agentur Interfax zufolge.

Ob und welche Substanzen in Nawalnys Körper waren, sei noch überhaupt nicht klar. „Es gibt auch viele andere Varianten, man sollte nicht nur über eine sprechen.“ Die Lage müsse genau analysiert werden. „Deshalb gibt es keinen Platz für laute und leere Erklärungen.“

Verdacht auf Vergiftung von Anfang an

Die Vergiftungsversion wurde von den russischen Ärzten, die Nawalny in Sibirien als Erste versorgten, nur kurz in Betracht gezogen. Sie fanden nach eigenen Angaben keine ausreichenden Belege dafür. Nawalny, der in Russland unter anderem verschiedene Korruptionsskandale aufgedeckt hatte, wird seit Samstag in der Berliner Klinik behandelt.

Der frühere russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny bei einer Protestkundgebung in Moskau im Februar 2020
Reuters/Shamil Zhumatov
Mehrfach festgenommen und Ziel von Anschlägen

Ärztinnen und Ärzte gehen nach einer Auswertung klinischer Befunde davon aus, dass der Oppositionelle vergiftet wurde. Zunächst war er in einem Krankenhaus in Sibirien versorgt worden, kam aber auf Drängen seiner Familie und seines Teams nach Deutschland. Er liegt seit Donnerstag im Koma.

Anschläge und Festnahmen

Nawalny ist einer der schärfsten Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Auf den 44-Jährigen wurden schon mehrere Anschläge verübt, er wurde mehrfach festgenommen. Die Umstände von Nawalnys Erkrankung sind mysteriös: Er hatte sich zu einer politischen Reise in Sibirien aufgehalten und wollte zurück nach Moskau fliegen, als er in dem Flugzeug das Bewusstsein verlor.

Nach Angaben der Berliner Charite deuten die ersten Untersuchungen auf eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin, die bei Nawalny gefunden wurde. Laut der Klinik wurde die Wirkung des Giftstoffs mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen. Um welche Substanz es sich handelt, ist aber unklar. Entsprechende Stoffe finden sich in Medikamenten, aber auch Pestiziden und chemischen Kampfstoffen.

Moskau sieht „nichts Neues“ in Analyse aus Berlin

Peskow zufolge hatte die Mitteilung der Charite vom Montag „nichts Neues“ enthalten. Die medizinische Analyse der deutschen Ärzte stimme „absolut mit unserer überein, aber die Schlussfolgerungen sind unterschiedlich“. Russische Ärzte seien aber bereit, Proben der ersten Analyse den Ärzten in Berlin zur Verfügung zu stellen.

Es gebe viele Gründe, weshalb ein Cholinesterase-Wert im Körper eines Menschen sinken könne, sagte der Kreml-Sprecher. Eine Möglichkeit sei die Einnahme von Medikamenten. „Weder unsere noch die deutschen Ärzte konnten diesen Grund bisher feststellen.“ Cholinesterasen sind körpereigene Enzyme, sie sind im Stoffwechsel unverzichtbar für den Abbau bestimmter Stoffe, insbesondere des Botenstoffs Acetylcholin im Gehirn. Cholinesterase-Hemmer blockieren dieses Enzym.

Offenbar von Geheimdienst überwacht

Nawalny soll vor seiner plötzlichen Erkrankung überwacht worden sein. Der liberale russische Oppositionspolitiker Ilja Jaschin stellte beim Inlandsgeheimdienst FSB eine Anfrage, warum und auf welcher rechtlichen Basis dieser jeden Schritt Nawalnys kontrolliert habe. „Natürlich mache ich mir keine Illusionen“, schrieb Jaschin auf Facebook. „Wir wollen zeigen, dass wir im Gegensatz zu anderen nach dem Gesetz leben und eine Rechtsgrundlage haben wollen.“ Jaschin ist Wegbegleiter Nawalnys. „Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich um einen Mordversuch handelte und nicht nur um Einschüchterung.“

Kreml prüft Verstrickung „ausländischer Kräfte“

Das russische Parlament kündigte währenddessen eine Prüfung der Causa dahingehend an, ob es eine Verstrickung ausländischer Kräfte in die Erkrankung des Oppositionellen gibt. Eine entsprechende Anordnung traf Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin am Dienstag in Moskau.

„Der Sicherheitsausschuss der Staatsduma wird angewiesen zu analysieren, was geschehen ist, damit klar wird, ob es ein Versuch im Auftrag ausländischer Staaten war, der Gesundheit eines russischen Bürgers zu schaden, um so Spannungen innerhalb Russlands zu schüren und neue Vorwürfe gegen unser Land zu erheben.“