Polizeifahrzeuge vor der Charite in Berlin
Reuters/Michele Tantussi
Deutsche Regierung

Nawalny mit Nervenkampfstoff vergiftet

Bei dem in Deutschland in Behandlung befindlichen russischen Regierungskritiker Alexej Nawalny wurde nach Angaben der deutschen Regierung „der zweifelsfreie Nachweis“ eines chemischen Nervenkampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe erbracht. Das sagte Regierungssprecher Steffen Seibert Mittwochnachmittag in Berlin.

Der nachgewiesene Kampfstoff gehöre dem Regierungssprecher zufolge zur Nowitschok-Gruppe. Festgestellt habe das ein Speziallabor der deutschen Bundeswehr auf Veranlassung der Charite. Seibert sprach von einem „bestürzenden Vorgang“. „Die Bundesregierung verurteilt diesen Angriff auf das Schärfste.“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich in ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme bestürzt. Es sei sicher, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden sei, sagte Merkel am Mittwoch in Berlin. „Er sollte zum Schweigen gebracht werden.“

Bei ihm sei eindeutig ein chemischer Nervenkampfstoff nachgewiesen worden, sagte die deutsche Kanzlerin. „Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt“, so Merkel. „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss.“

Botschafter einbestellt

Das Außenministerium bestellte mittlerweile den Botschafter Russlands ein. „Ihm wurde dabei nochmals unmissverständlich die Aufforderung der Bundesregierung übermittelt, die Hintergründe dieser nun nachweislichen Vergiftung von Alexej Nawalny vollumfänglich und mit voller Transparenz aufzuklären“, so der deutsche Außenminister Heiko Maas.

Die deutsche Regierung werde parallel mit den Partnern in EU und NATO über eine „angemessene gemeinsame Reaktion beraten“, so Seibert. Kanzlerin Angela Merkel habe sich mit Finanzminister Olaf Scholz, Außenminister Heiko Maas, Innenminister Horst Seehofer, Justizminister Christine Lambrecht, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sowie dem Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun, zu Mittag beraten und weitere Schritte abgestimmt.

Schwere Belastung für Beziehungen

Das Untersuchungsergebnis könnte die ohnehin schon angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie anderen westlichen Staaten noch einmal schwer erschüttern. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp.

Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die deutsche Regierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an.

Moskau will Auskunft von Berlin

Das russische Präsidialamt betonte in einer ersten Reaktion, von Berlin noch nicht informiert worden zu sein. Zuvor war bekanntgeworden, dass russische Ermittler von Deutschland Auskunft über medizinische Erkenntnisse forderten. Ein Sprecher des Justizministeriums in Berlin bestätigte am Mittwoch einen entsprechenden Bericht der russischen Zeitung „RBC“.

Seit 22. August in Berlin in Behandlung

Nawalny wird seit dem 22. August in der Berliner Charite behandelt. Nach ersten Erkenntnissen der Charite wurde dem Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin ein Gift verabreicht. Die Hintergründe sind aber nach wie vor unklar. Russische Sicherheitsbehörden haben dagegen bisher erklärt, sie sähen keinen Anlass für Ermittlungen. Anzeichen für eine Straftat gebe es nicht. Russische Ärzte hatten gesagt, dass sie keine Hinweise auf eine Vergiftung gefunden hätten.

Charite: Symptome gehen zurück

Die Charite äußerte sich zuletzt am Freitag zu dem Fall. In einer Erklärung teilte das Universitätsklinikum mit, dass sich die Vergiftungssymptome bei Nawalny zurückbildeten. Sein Zustand sei stabil, er befinde sich weiter auf einer Intensivstation im künstlichen Koma und werde maschinell beatmet. Akute Lebensgefahr bestehe nicht, Langzeitfolgen der „schweren Vergiftung des Patienten“ seien aber nicht absehbar.

Auf Flug zusammengebrochen

Der rechtspopulistische Nawalny war am 20. August auf einem Inlandsflug in Russland zusammengebrochen. Zunächst wurde er im sibirischen Omsk behandelt, bevor er nach Deutschland geflogen wurde. Russland wird für mehrere Giftattentate auf Kreml-Kritiker verantwortlich gemacht.

Immer wieder Razzien und Verhaftungen

Nawalny zeigt immer wieder Fälle von grassierender Korruption auf und organisierte in den vergangenen Jahren in Russland auch immer wieder landesweite Proteste. Seinem Aufruf folgten dabei Zehntausende – vor allem junge – Menschen. Er werde von den Behörden an seiner Arbeit gehindert, betonte Nawalny regelmäßig.

Immer wieder gab es Razzien in seinen Büros, er wurde auch oft festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. 2017 wurde der Oppositionelle bei einer Farbattacke schwer am Auge verletzt. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht und später in Spanien operiert. Vor einem Jahr musste er während seiner Haftstrafe in einem Krankenhaus angeblich wegen eines Allergieschocks behandelt werden. Nawalny betonte damals, dass er vergiftet worden sein könnte.

Fälle mutmaßlicher Giftanschläge

In Russland waren mutmaßliche Vergiftungen im politischen Milieu in der Vergangenheit immer wieder ein Thema. Auch der Aktivist Pjotr Wersilow, Mitglied der russischen Polit-Punk-Gruppe Pussy Riot, verdächtigte den russischen Geheimdienst, ihn 2018 in Moskau vergiftet zu haben. Er wurde in Berlin behandelt. Pussy Riot sind mit spektakulären Aktionen gegen Justizwillkür und Korruption weltweit bekannt geworden.

Ein weiterer bekannter Fall: Der ehemalige Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia wurden im März 2018 im englischen Salisbury einem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe ausgesetzt. Beide entgingen nur knapp dem Tod. Westliche Geheimdienste beschuldigen die russische Regierung, den Anschlag als Vergeltung für Skripals Tätigkeit als Doppelagent veranlasst zu haben. Eine 44-jährige Britin, die später mit dem Nervengift in Kontakt kam, starb.

Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit den russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Agenten Dmitri Kowtun und Andrej Lugowoi Tee getrunken. London gibt Moskau die Schuld, das jegliche Verantwortung bestreitet.