Nach dem CoV-Festspielsommer ist vor dem Repertoire-Herbst der heimischen Bühnen: Nachdem sich die Salzburger Festspiele für ihren „Against all odds“-Willen zu Recht Lob und Lorbeer eingeholt haben, blickt jetzt alles auf das Flaggschiff der Kulturnation, die Wiener Staatsoper, die unter komplett neuer Leitung segelt. Ohnedies wären der neue Chef Bogdan Roscic und sein Team an Aufgaben für ihre erste Spielzeit nicht gerade unterfordert – da kommen mit dem Virus erschwerte Startbedingungen und von der Albertina nebenan nicht gerade hilfreiche Tipps, was die Motivation für einen Spielbetrieb anlangt.
„Butterfly“ live
ORF III und ORF.at zeigen „Madama Butterfly“ live zeitversetzt am Montag ab 20.15 Uhr – mehr dazu in tv.ORF.at. Ö1 überträgt ab 19.00 Uhr – mehr dazu in oe1.ORF.at.
Roscic ist als früherer Chef von Klassik-Labels und Kind einer Ärztefamilie geübt in der effizienten Patientenbetreuung. Zurufen von der Seite erteilt er meist so etwas wie eine Ross(cic)kur, die ungewohnt deutlich ist im sonst auf das vordergründige Faserschmeicheln ausgerichteten Kulturbetrieb. Und von seinen Aufgaben bei der Deutschen Grammophon wie zuletzt bei Sony Classic weiß er: Wer nur auf den eingefleischten Publikumsstamm setzt, der wird mit seinem Boot untergehen. Klassik und Hochkultur schreien nach Öffnung, nach neuen Stars und Magnetwirkung, will man nicht im Gerontokratiesaal eines Kulturkundemuseums stranden.
„Wagner kann man nicht auf eine Version für zwei Kammbläser kürzen“
„Junge Menschen werden wir nicht anziehen, wenn sie aus siebter Hand erfahren, was die Wiener Staatsoper ist“, sagte er zuletzt in einem ZIB2-Interview und meinte damit ganz schlicht: Zur Meinungsbildung müssten gerade die Jungen einmal ihren Fuß hinter den Operneingang bekommen, um die Chance auf eine eigene Haltung und im Idealfall eine Verzauberung zu bekommen. Deshalb dürfen künftig alle unter 27 günstig in die Generalprobe, um die Chance auf Geschmackserweitung zu erlangen.
Philippe Jordan: Der junge Überwinder der Gegensätze
Mit dem jungen Zürcher Dirigenten Philippe Jordan hat Roscic nach mühsamen Verhandlungen nicht nur im Hause Gustav Mahlers die Lücke der musikalischen Leitung geschlossen – die unter seinem Vorgänger seit dem Zwist mit Franz Welser-Möst ewig offen geblieben war. Er hat auch einen Mitstreiter für eine Überwindung der Lagerbildung: Hier die Vertreter der historischen Aufführungspraxis, da die Hüter der reinen Interpretationslehre im Stile der seit Karajan geprägten Klassik – und irgendwo auch die Frage von historistischer oder moderner Aufführung. Jordan positioniert sich da als ein Überwinder dieser Gegensätze, die einer breiten und vor allem neuen Öffentlichkeit ohnedies egal sein werden.

„Mir geht es um die Synthese“, so Jordan zuletzt in einem Interview mit Wilhelm Sinkovicz in der „Presse“: „Es geht ja nicht darum, wohlbekannte Stücke neu durchzudenken, sondern alle Elemente aufgrund des Notenbildes so klar wie möglich herauszubringen“. Musik müsse ihre „Kanten“ haben, „aber die müssen schön klingen“. In Regiefragen verlangt Jordan eine eingehende Kenntnis des Stoffes; die Diskussion über „modernes“ oder „museales“ Theater möge er nicht. „Es gibt nur gutes oder schlechtes Theater“, gibt er eine Programmatik vor, in der er sich mit Roscic einig weiß.
„Madama Butterfly“ in der Staatsoper
Rund 160 Tage lang war in der Wiener Staatsoper keine Opernaufführung mehr zu sehen. Am Montag startet das Haus mit „Madama Butterfly“ in die neue Saison.
Fokussierung im Repertoire-Betrieb
Realisieren wollen beide diesen Anspruch durch eine Durchforstung des bisherigen Repertoire-Betriebes: weniger, dafür besser und fokussierter. Mit dem Back-Katalog der großen Opernproduktionen im Kopf, hat sich Roscic einem gerade im digitalen Zeitalter umso gültigeren Prinzip verschrieben: dem Kuratieren. Er holt erprobte Produktionen nach Wien, um so etwas wie die ganze Breite der Opernspielformen der letzten 20 Jahre darstellen zu können. Und er durchforstet den eigenen Bestand nach dem Haltbaren, immer noch frischen. So kommt etwa ab Dienstag die Harry-Kupfer-„Elektra“ wieder zum Zug, pikanterweise gerade unter der Leitung von Franz Welser-Möst, jener musikalischen Konstellation von Dirigent und Philharmonikern, die gerade gefeiert in der Salzburger Felsenreitschule zu erleben war.

Mit der „Elektra“ kann Roscic einen ähnlichen Ablauf wie in Salzburg präsentieren, also eine Vorstellung unter zwei Stunden, die ohne Pause auskommt. Für alle anderen Produktionen müsse die Staatsoper auch Pausen vorsehen, denn: „Wir können einen Einakter schon unter zwei Stunden spielen, aber einen Wagner schwer auf eine 40-minütige Version für zwei Kammbläser und eine Melodika einkürzen.“
Für alle anderen Aufführungen ist sich Roscic gewiss, dass das Publikum mit Masken und Disziplin auch einen Pausenparcours zwischen stillem Ort und Buffet unter sicherheitstechnischen Auflagen und Selbstdisziplin bewältigen wird. Eine wichtige Probe auch in Sachen Coronavirus war die Generalprobe zur „Madama Butterfly“, bei der die U27-Aktion (Probenkarten für zehn Euro für alle unter 27) gut 1.000 Menschen ins Haus brachte, also knapp hundert weniger als die Maximalauslastung in Covid19-Schutzzeiten.

Schmerz und Schmelz
Den Auftakt an der Staatsoper mit der überarbeiteten Wiederaufnahme von Anthony Minghellas mittlerweile schon legendärer Met-Inszenierung von Giacommo Puccinis „Madama Butterfly“ aus dem Jahr 2006 mit der zuletzt wieder gefeierten Asmik Grigorian als Geisha Cio-Cio-San und dem jungen amerikanischen Tenor Freddie De Tommasso, der als Pinkerton sein Staatsoperndebüt gibt, kann live-zeitversetzt in ORF III und im Rahmen dieses Berichts auf ORF.at mitverfolgt werden. Es ist dies der Auftakt einer Serie von Liveübertragungen der Staatsoper in Zusammenarbeit mit dem ORF, die helfen kann, den Kreis der Interessenten für das Format Oper zu erweitern.

Die Wahl von Minghellas Inszenierung will Roscic, wie er auch gegenüber ORF.at sagt, nicht als Programmatik verstanden wissen. Dass man mit der Erfolgsarbeit eines erfolgreichen (mittlerweile verstorbenen) Filmregisseurs („Der englische Patient“, „Der talentierte Mr. Ripley“) startet, habe am Ende immer auch planungspragmatische Gründe, so Roscic. Und dennoch: Die Wirksamkeit dieser Inszenierung ist Programm für eine Oper, die im ersten Schritt ihr Repertoire durchforstet und mit einigen hereingeholten Inszenierungen neu akzentuiert – bevor in einem zweiten Schritt die künstlerische Handschrift sichtbar wird, an deren Ende auch ein eigener Ring am Ende der ersten Direktion Roscic/Jordan stehen soll.
Oper ist mehr als Bühnenbetrieb
Die Öffnung der Oper, diese soll und muss von Anfang an kommen. Blickt man auf das Programm, dann ist die Oper nicht mehr nur ein Deklamationsort für die größten Werke der Opernliteratur. Sie ist auch ein Ort der Auseinandersetzung und des Diskurses mit dem Musiktheater und der Musik im Allgemeinen. Jene, die das Werk zum Laufen und Leuchten bringen, stellen sich dem Diskurs. So sind gerade die jüngst erschienen Bücher der Dirigenten Jordan und Welser-Möst Träger für eine Veranstaltungsserie, die mit den Gestaltern von Theater ins Gespräch und zur Reflexion kommen will.
Gerade im Covid-19-bedingten Ausnahmejahr kann sich die Oper bei allen Schwierigkeiten und Hürden, die ein Spielbetrieb hat, wieder refokussieren. Wie die Museen können die Österreicherinnen und Österreicher diesen Kunsttempel wieder für das Medium der Entdeckung für sich in Beschlag nehmen. Und dabei draufkommen, dass Oper ein Medium der Begeisterung – und nicht eines der Besitzwahrung von Kultureliten ist. Die „Butterfly“ in ihrer Verbindung von Schmerz und Schmelz ist da ein doch programmatischer Einstieg für eine nicht auf Eliten ausgerichtete Opernkultur.