Der österreichische Migrationsexperte Gerald Knaus
EBU
Idee und Geld

Ungarns Kampagne gegen Österreicher

Eine der Tageszeitungen, die dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban besonders nahesteht, hat eine Medienkampagne gegen den österreichischen Migrationsexperten Gerald Knaus gestartet. Hintergrund ist eine seit Jahren langsam Fahrt aufnehmende Debatte über Solidarität – sprich: Milliarden Euro an EU-Hilfen – und Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU. Ein Vorschlag von Knaus, der unter anderem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel berät, dürfte den Zorn von Orban erregt haben.

Die regierungsnahe ungarische Zeitung „Magyar Nemzet“ begann vor wenigen Tagen eine Artikelserie, mit der sie nach eigenen Angaben den international renommierten Experten und Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) als „Lobbyisten“ des ungarischstämmigen US-Milliardärs George Soros „enttarnen“ will.

Das Büro von Orban rechtfertigte und unterstrich die gegen den Österreicher erhobenen Vorwürfe schriftlich gegenüber ORF.at. Knaus selbst nannte in einem Telefoninterview die Medienkampagne – laut seinen Aussagen ist diese konzertiert und reicht mittlerweile bis zu den Lokalmedien – einen „sehr guten Spiegel“ für die politischen Verhältnisse in Ungarn. Würde er in Ungarn leben, wäre das „tatsächlich sehr einschüchternd“. Er kündigte eine Analyse und Reaktion auf die Vorwürfe für die kommenden Tage an.

Soros und seine Open Society Foundation – von der Orban einst als junger Oppositionspolitiker selbst Geld erhielt – dienen Orban seit Jahren als Angriffsziel, um so seine eigene Politik zu rechtfertigen und Kritik daran zu delegitimieren. Eine von Orban veranlasste Gesetzesänderung zwang auch die in Budapest von Soros gegründete Central European University, die jährlich Zehntausenden jungen Menschen aus Mittel- und Osteuropa ein Studium ermöglicht, Ungarn zu verlassen. Sie hat mittlerweile ihre Umsiedlung nach Wien begonnen.

Zeitung sieht Kampagne gegen Orban

Knaus sei der „Dirigent“ des „Soros-Netzwerks“, titelte das Blatt zu Wochenbeginn auf der Titelseite und kündigte eine Artikelserie an, in der dargelegt werden solle, dass Knaus und sein Thinktank ESI in den vergangenen Monaten eine neue Kommunikationsoffensive gegen Ungarn geführt habe. Die Zeitung kündigte zudem die Veröffentlichung von Dokumenten an, die belegen sollen, dass Knaus, der als Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens von 2016 gilt, nicht aus Überzeugung, sondern „ausschließlich aus finanziellen Gründen“ mit dem „Soros-Netzwerk“ verbunden sei.

Knaus weist gegenüber ORF.at den Vorwurf, von Soros finanziell abhängig zu sein, strikt zurück. Wenn, dann müssten sich ungarische Angriffe gegen die schwedische Regierung oder die deutsche Mercator-Stiftung richten. Diese seien die mit großem Abstand wichtigsten Geldgeber für ESI. Knaus vermutet, dass die ungarischen Angriffe sich nicht gegen seine Positionen zur Migration, sondern zur Frage der Rechtsstaatlichkeit wenden.

Orbans Pressebüro betont in der Stellungnahme dagegen, das ESI-Papier „reflektiert gut, dass es dem Drehbuch des Soros-Orchesters folgt“. Der „sogenannte ‚Bericht‘ ist voller Lügen, verzerrter Fakten und klar politisch motiviert“. Das „Netzwerk dieser sogenannten Fachleute operiert auf konzertierte Weise“, heißt es weiter.

Das Außenministerium betonte auf ORF.at-Anfrage: „Die Einhaltung von Meinungsäußerungsfreiheit ist ein Grundpfeiler der Demokratie. Sachliche Kritik muss jedenfalls möglich sein. Das bedeutet aber nicht, dass dadurch Desinformation und Diffamierung systematisch verbreitet oder gefördert werden darf.“

Auffälliges Timing

Das Timing der ungarischen Medienkampagne ist jedenfalls auffällig: Der ESI-Bericht mit dem Titel „Der Zauberer, das Virus und ein Goldtopf – Viktor Orban und die Zukunft der europäischen Solidarität“, war bereits im April erschienen. Möglicherweise hängt es auch damit zusammen, dass Deutschland in der zweiten Jahreshälfte die EU-Ratspräsidentschaft innehat – und der siebenjährige EU-Budgetrahmen bis Jahresende final ausverhandelt wird. Dabei geht es um viele Milliarden an EU-Beihilfen für Ungarn.

Knaus wiederum gilt als der Architekt des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei, den Kanzlerin Merkel in die Tat umsetzte. Und er hat gute Beziehungen zu den deutschen Christdemokraten. Der Pakt mit der Türkei war es, der die massenhafte Flüchtlingsbewegung via Griechenland und die Balkan-Staaten weitgehend eindämmte.

Der Geldhebel

Bereits im Herbst 2015 hatten Merkel, aber etwa auch der damalige Kanzler Werner Faymann (SPÖ) wiederholt angedeutet, dass Solidarität innerhalb der EU nötig sei. Und wenn es keine Kooperationsbereitschaft – etwa Ungarns – in dieser Frage gäbe, müsse man überlegen, ob im Gegenzug die finanzielle Solidarität nicht eingeschränkt werden müsse. Der konkrete Hebel dafür war und ist der siebenjährige EU-Budgetrahmen, der noch immer nicht völlig unter Dach und Fach ist. In Ungarns Budget machen die EU-Beihilfen einen – im Vergleich – überproportionalen Anteil aus.

In dem – im April erschienen – ESI-Bericht wird die ungleiche Mittelaufteilung des 37 Milliarden Euro schweren Pandemie-Soforthilfepakets, das Ende März von der EU beschlossen wurde, scharf kritisiert. So wird aufgeschlüsselt, dass dem von der Pandemie relativ wenig betroffenen Ungarn 5,6 Milliarden Euro zugesprochen wurden. Das zu dem Zeitpunkt mit Abstand am stärksten betroffene – und deutlich größere – Land, nämlich Italien, erhielt nur 2,3 Milliarden Euro. Die EU-Kommission sprach selbst wörtlich von einer „nicht optimalen Verteilung“. „Es war aber jedenfalls ein perfekter Deal für Viktor Orban“, so die Schlussfolgerung von ESI.

Für Ungarn gefährliche Forderung

Knaus fordert in dem Bericht einen – für EU-Verhältnisse radikalen – Kurswechsel. Struktur- und Regionalhilfen für entwicklungsschwächere Gebiete seien gut und schön – aber sie müssten an solidarisches Verhalten und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gebunden werden. Genau solche Versuche hat Orban in den letzten Jahren stets vehement abgelehnt. Er konnte sich dabei der Unterstützung anderer Länder, insbesondere Polens, gewiss sein.

Knaus hält eine Regeländerung innerhalb des bestehenden Systems aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips für unrealistisch. Er plädiert stattdessen für einen, an den Marshall-Plan angelehnten, Fonds „Solidarität und demokratische Verwaltung (SDA)“ für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Pandemie. SDA-Hilfen sollten für jeden EU-Staat zugänglich sein, „die die Werte der Europäischen Verträge und die Urteile des EuGH, insbesondere bezüglich der Rechtsstaatlichkeit, respektieren“. Länder, die sich nicht daran halten, würden keine SDA-Gelder erhalten können. Und: Die Entscheidungen über die Geldervergabe solle nicht einstimmig, sondern mit Mehrheitsbeschluss erfolgen.

Aktuelle Verhandlungen über Hunderte Milliarden

Nach einer Grundsatzeinigung über den EU-Budgetrahmen und ein zweites Rettungspaket beim mehrmals verlängerten Gipfel im Juli wird derzeit über die Details verhandelt. Das Budget von einer Billion und 800 Milliarden Euro an Hilfen, teils als Kredite, teils nicht rückzahlbar, sind die Eckdaten. Im Mittelpunkt steht dabei Deutschland, das mit Abstand größte Nettozahler- und zugleich aktuelle EU-Ratsvorsitzland. Im Rahmen dieser Verhandlungen wird auch über den Mechanismus, wie die Pandemiehilfen vergeben werden, entschieden werden.

Den Vorstoß von ESI, die Vergabe von EU-Hilfsgeldern an Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen, lehnt die ungarische Regierung gegenüber ORF.at strikt ab und warnt davor, das vereinbarte Paket wieder aufzuschnüren. Die Einigung vom Juli sei ein „gemeinsames und kohärentes Paket“. Daraus könnte „keine einzige Komponente herausgelöst, entfernt oder davon getrennt oder abgeändert werden“. Hier gelte: alles oder nichts. Und abschließend wird – wohl auch in Richtung Deutschland – betont: Ungarns Ziele seien „von Anfang an immer allen Beteiligten bekannt“ gewesen.

Österreich hingegen sei für eine Junktimierung „zum Schutz der Fördermittel“, wie es aus dem Außenministerium auf Anfrage von ORF.at hieß. Die Verknüpfung zwischen der Vergabe von EU-Finanzmitteln und der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien werde „aktiv unterstützt“, betonte das Ministerium.

Orban sieht sich als Pionier

Orban hielt sich in den vergangenen Jahren wiederholt zugute, dass er im Umgang mit der Flüchtlingsbewegung eine Art Pionierrolle eingenommen habe. Die anderen EU-Länder seien schließlich seiner eigenen Politik gefolgt. Er meinte damit vor allem die Grenzschließungen, die er ohne Rücksicht auf eine etwaige Verletzung oder Beugung von Menschenrechten und ohne Berücksichtigung der politischen Folgen in Europa umsetzte. Auch bei den jüngsten pandemiebedingten Grenzschließungen Ungarns sagte Orban, Europa werde ihm noch folgen.

Auf den ersten Blick scheint das – bezüglich der Flüchtlingspolitik – zu stimmen: Tatsächlich gab es auf europäischer Ebene in der Frage fast nur bei der Verstärkung des Außengrenzschutzes Fortschritte, nicht aber bei den zentralen Fragen einer einheitlichen Asyl- und Migrationspolitik. Allerdings sind all das Themen, in denen in der EU das Einstimmigkeitsprinzip herrscht – und Ungarn und andere mittel- und osteuropäische Länder, nicht zuletzt Österreich, standen – außer beim Grenzschutz – auf der Bremse.

Beispiel für Beherrschung der Medien

Übrigens: „Magyar Nemzet“, die die aktuelle Kampagne gegen ESI und Knaus eröffnete, war „die letzte überregionale Tageszeitung, die nicht regierungsnahe“ war, so die „Neue Zürcher Zeitung“ aus Anlass der Einstellung im Frühjahr 2018. Der Name der traditionsreichen, 1938 gegründeten, konservativen Zeitung, lebt aber weiter: Ausgerechnet eines der Sprachrohre von Orbans rechtsgerichteter Regierung, die Zeitung „Magyar Idök“, erscheint seit dem Vorjahr unter dem Namen „Magyar Nemzet“.