Die weißrussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa
Reuters/Vasily Fedosenko
Drama an Grenze

Kolesnikowa in Haft

An der weißrussisch-ukrainischen Grenze haben sich Dienstagfrüh offenbar dramatische Szenen abgespielt. Die Nachrichtenlage ist widersprüchlich, aber ukrainischen Angaben zufolge wurde versucht, die Oppositionelle Maria Kolesnikowa gewaltsam in die Ukraine abzuschieben. Sie habe ihren Pass zerrissen. Nun befindet sie sich in weißrussischer Haft.

Über das Verbleiben der weißrussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa gibt es weiterhin widersprüchliche Berichte. Zunächst hatten weißrussische Behörden laut Medien Dienstagfrüh mitgeteilt, sie habe das Land verlassen. Dann teilten weißrussische Grenzschutzbehörden wiederum mit, Kolesnikowa sei an der Grenze zur Ukraine festgenommen worden. Sie habe in der Nacht versucht, die Grenze zu überqueren. Zwei weiteren Mitgliedern des oppositionellen Koordinierungsrates, die Kolesnikowa begleiteten, sei der Grenzübertritt gelungen. „Kolesnikowa ist derzeit in Gewahrsam“, sagte ein Sprecher des Grenzschutzes.

Die Darstellung der Ereignisse aus ukrainischer Sicht – ukrainische Grenzbeamten wurden offenbar Augenzeugen der Ereignisse – ist dagegen eine andere: Demnach kam Kolesnikowa zum Grenzübergang, betrat aber nie ukrainischen Boden. Laut dem ukrainischen Vizeinnenminister Anton Geraschenko verhinderte die weißrussische Oppositionelle erfolgreich „eine erzwungene Vertreibung aus ihrem Heimatland“.

In einem Facebook-Posting schrieb Geraschenko weiters: „Maria Kolesnikowa konnte nicht aus Weißrussland deportiert werden, weil diese tapfere Frau Schritte unternahm, um zu verhindern, dass sie die Grenze überschreitet (über die Grenze gebracht wird). Sie blieb auf dem Gebiet der Republik Weißrussland. Alexander Lukaschenko ist persönlich für ihr Leben und ihre Gesundheit verantwortlich“, so Geraschenko demnach.

Bericht: Pass an Grenze selbst zerrissen

Laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Interfax zerriss Kolesnikowa ihren Pass an der Grenze und verhinderte dadurch, dass sie außer Landes gebracht wurde. Diese Darstellung der Ereignisse könnte auch die zunächst widersprüchlichen weißrussischen Berichte – einerseits Grenzübertritt, andererseits Festnahme – erklären.

Am Abend berichtete der weißrussische Aktivist Anton Rodnenkow, der bei dem Vorfall an der Grenze anwesend war, von seiner Sicht: Die weißrussischen Behörden hätten versucht, Kolesnikowa gewaltsam in die Ukraine abzuschieben. Kolesnikowa sei „auf den Rücksitz eines Autos gezwungen“ worden, so Rodnenkow. Sie habe sich gewehrt und unter anderem ihrem Pass zerrissen, am Ende sei sie festgenommen worden. Der Koordinierungsrat der Opposition hat nach eigenen Angaben selbst bisher keine Informationen, wo sich Kolesnikowa aufhält. „Wir können nur die Tatsache bestätigen, dass Maria Kolesnikowa Weißrussland nicht freiwillig verlassen wollte“, hieß es.

Mit der – zumindest indirekten – Involvierung der Ukraine wird die geopolitische Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland – rund um Weißrussland und die gleichzeitige mutmaßliche Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexander Nawalny – noch zusätzlich aufgeladen.

Appell für Freilassung

Die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja, die sich im Exil in Litauen befindet, forderte die sofortige Freilassung ihrer Mitstreiterin. „Aufgabe des Koordinierungsrates ist es, eine Plattform für Verhandlungen zu sein“, meinte die 37-Jährige, die gegen den Staatschef kandidiert hatte und sich im EU-Land Litauen aufhält. „Es gibt keine andere Lösung, und Lukaschenko muss das erkennen.“ Er könne nicht einfach Menschen als Geiseln nehmen.

In einer Videokonferenz mit dem Europarat sagte Tichanowskaja weiters, dass eine künftige demokratisch gewählte weißrussische Regierung etwaige internationale Abkommen, die in nächster Zeit von Lukaschenko ausverhandelt werden, nicht anerkennen werde.

Am Montag plötzlich verschwunden

Seit Montagvormittag gab es von Kolesnikowa, einer der wichtigsten Anführerinnen der Proteste gegen Staatschef Alexander Lukaschenko, kein Lebenszeichen. Der Koordinierungsrat der Demokratiebewegung, dem sie angehört, ging davon aus, dass Kolesnikowa im Zentrum der Hauptstadt Minsk von Unbekannten entführt worden war. Das Innenministerium hatte mitgeteilt, es habe Kolesnikowa nicht festgenommen. Der Rat forderte die sofortige Freilassung.

Lukaschenko geht gegen Koordinierungsrat vor

Lukaschenko geht seit Tagen gegen den Koordinierungsrat vor und ließ mehrere Mitglieder festnehmen. Der Rat will einen friedlichen Machtübergang durch Dialog erreichen. Kolesnikowa ist eine der wichtigsten Oppositionellen, die sich gegen Lukaschenko stellen.

Machthaber: Nur ich kann Land schützen

Gegenüber russischen Medien räumte Lukaschenko ein, womöglich etwas zu lange an der Macht zu sein. Er sei aber die einzige Person, die in der Lage sei, das Land derzeit zu schützen, erklärte der Staatschef. Laut einem russischen Journalisten von Moscow Talks machte Lukaschenko deutlich, dass er ungeachtet der Massenproteste in seinem Land nicht zurücktreten werde. Sollte er gestürzt werden, dann ist nach Ansicht Lukaschenkos „Russland als Nächstes dran“, wie er selbst laut Ria Nowosti sagte. Diese Ansichtsweise habe man mit Moskau gemeinsam, so Lukaschenko.

Seit mehr als vier Wochen kommt es in Weißrussland zu Protesten gegen Lukaschenko. Hintergrund ist die Präsidentenwahl, bei der er sich mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ. Die Opposition hält dagegen Tichanowskaja für die wahre Siegerin. Die Abstimmung steht international als grob gefälscht in der Kritik.

Maria Kolesnikowa vor Demonstranten
APA/AFP/Sergei Gapon
Kolesnikowa zählt zu den führenden Oppositionellen in Weißrussland

„Entführung ist eine Schande“

Litauens Außenminister Linas Linkevicius hatte am Montag die Staatsführung in Minsk für das spurlose Verschwinden Kolesnikowas verantwortlich gemacht und deren sofortige Freilassung gefordert. „Die Entführung von M. Kolesnikowa in der Innenstadt von Minsk ist eine Schande“, schrieb Linkevicius auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Archivbild von Swetlana Tichanowskaja
AP/Mindaugas Kulbis
Tichanowskaja flüchtete nach der Wahl nach Litauen

Kritik aus Berlin und Wien

Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas forderte Auskunft über das Schicksal von Kolesnikowa. Österreichs Außenministerium forderte einmal mehr die weißrussischen Behörden allgemein auf, „die willkürlichen Verhaftungen von Oppositionellen unverzüglich einzustellen und denjenigen, die aus dem Land fliehen mussten, eine sichere Rückkehr zu garantieren“.

EU-Sanktionen gegen 31 hochrangige Weißrussen geplant

Die EU reagierte besorgt auf das Verschwinden der Oppositionellen. „Wir versuchen, die Fakten zu ermitteln“, sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Die „fortgesetzte Repression der Behörden gegen die Zivilbevölkerung (…) sei völlig inakzeptabel“.

Die EU bereitet unterdessen Medienberichten zufolge wegen der umstrittenen Präsidentenwahl in Weißrussland Strafmaßnahmen gegen 31 hochrangige Regierungsmitglieder und Behörden vor. Darunter sei Innenminister Juri Karaew, wie die Nachrichtenagentur Reuters von drei EU-Diplomaten erfuhr.

Kolesnikowa arbeitet für den Ex-Bankchef Viktor Babariko, der für das Präsidentenamt kandidieren wollte. Sie ist auch im Präsidium des Koordinierungsrates, der einen friedlichen Machtwechsel anstrebt. Kolesnikowa hatte viele Jahre in Stuttgart in Deutschland gelebt und von dort aus Kulturprojekte gemanagt. Kolesnikowa trat immer wieder bei Protestaktionen auf und wurde dabei von den Demonstranten bejubelt. Bei der Großdemonstration am Sonntag marschierte sie in Minsk mit.