Werner Kogler (Die Grünen)
ORF.at/Christian Öser
„Weniger Zynismus“

Kogler will Flüchtlingskinder aufnehmen

Der Ton in der Koalition zum Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria wird schärfer. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kritisierte die Aussagen von ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg scharf: „Ich erwarte mir mehr europäischen Geist und mehr Menschlichkeit und weniger Zynismus“, so der Grünen-Chef im „Standard“. Schallenberg wie sämtliche Spitzenpolitiker der ÖVP lehnen eine Aufnahme von Flüchtlingen strikt ab.

Schallenberg sprach wörtlich von einem „Geschrei nach Verteilung“. Kogler will hingegen den Koalitionspartner überzeugen, dass angesichts der dramatischen und unmenschlichen Zustände in Moria insbesondere für Mütter und Kinder schnelle Hilfe notwendig sei: „Wenn Deutschlands Kanzlerin (Angela) Merkel und Frankreichs Präsident (Emmanuel) Macron und sogar der bayrische Ministerpräsident (Markus) Söder Kinder aufnehmen, dann kann das Österreich auch.“

Merkel und Macron wollen zusammen mit anderen EU-Ländern, die sich dazu bereiterklärt hatten, etwa 400 Minderjährige aus dem zerstörten Flüchtlingslager auf Lesbos aufnehmen. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis habe die deutsche Kanzlerin darum gebeten, sagte diese am Donnerstag bei einer Diskussion in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Die anvisierte Zahl von 400 sei nur eine etwaige Größenordnung und könne sich im Laufe der Gespräche über die gemeinsame Initiative noch ändern.

Kurz-Vertrauter Rutte will 100 Menschen aufnehmen

Auch die Niederlande kündigten überraschend an, 100 Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager aufzunehmen. Bisher hatte die Regierung des rechtsliberalen Premiers Mark Rutte die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland strikt abgelehnt. Das Feuer habe die Lage dramatisch geändert, begründete die zuständige Staatssekretärin Ankie Broekers-Knol in einem Brief an das Parlament den Kurswechsel. „In dieser besonderen Situation sind nach Ansicht der Regierung außergewöhnliche Schritte notwendig.“ Die Niederlande wollen Jugendliche und Familien mit Kindern aufnehmen. Rutte gilt auf EU-Ebene als enger Vertrauter von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Bewohner des Lager flüchten vor einem erneuten Feuer
Reuters/Alkis Konstantinidis
Menschen flohen vor den Flammen

Die ersten Maßnahmen zur Unterbringung in Griechenland liefen bereits an, sagte Mitsotakis. Eine Fähre mit Platz für Hunderte Menschen wurde zur Insel Lesbos entsandt, teilte das Migrationsministerium in Athen mit. Zwei griechische Marineschiffe sollen zusätzliche Schlafmöglichkeiten bieten. 165 unbegleitete Minderjährige wurden zudem an Bord eines Flugzeugs von Lesbos zur griechischen Hafenstadt Thessaloniki gebracht. Weitere 240 Minderjährige sollten folgen, berichtete der Rundfunk ERT.

Schallenberg: „Debatte deemotionalisieren“

Damit widerlegt Mitsotakis Schallenbergs Argument, Griechenland wisse noch nicht, was das Land brauche. Schallenberg sagte am Mittwoch in der ZIB2: „Wir müssen diese Debatte deemotionalisieren und rationalisieren.“ „Wenn wir die Hoffnung geben, dass es geht, werden sich auch andere auf den Weg machen.“ Auf die Frage, ob es nicht zynisch sei, wenn Tausende Menschen, darunter Hunderte Kinder, ohne Obdach seien, sagte Schallenberg: „Es geht immer nur um ein paar hundert Kinder.“

ÖVP-Außenminister Schallenberg über den Brand im Lager Moria

ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg sprach über die Folgen des Brandes im Flüchtlingslager im Lager auf Lesbos. Österreich wolle keine Menschen von dort aufnehmen.

Das sei nicht zynisch, „sondern die Wahrheit“ und „eine Frage des Hausverstands“. Österreich habe „sofort eine Million Soforthilfe aus dem Auslandskatastrophenfonds angeboten. Die Griechen wissen selber noch nicht, was sie brauchen.“ Die EU dürfe nicht in die „alte Debatte“ zurückfallen und über die Verteilung von Flüchtlingen reden.

Vergleich zwischen 4. September und 9. September. Das Lager befindet sich in der Bildmitte.

Van der Bellen: „Größe, jetzt das Richtige zu tun“

Daraufhin reagierten nicht nur zahlreiche Politikerinnen und Politiker aus den Reihen des Koalitionspartners der ÖVP, sondern auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er forderte indirekt die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria. „Unser Europa sollte Kontinent des Friedens & der Menschenrechte sein. Es ist erschütternd, dass in diesem, unserem gemeinsamen Europa, tausende Menschen, gestrandet auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Folter, jahrelang in menschenunwürdigen Bedingungen hausen müssen. Und jetzt haben sie auch dieses ‚Obdach‘ verloren. Österreich hat eine lange und große Tradition, Menschen in Not zu helfen. Die Österreicherinnen und Österreicher waren immer bereit, jenen unter die Arme zu greifen, die sich selbst nicht mehr helfen konnten. Geflüchtete Menschen in Moria & besonders Kinder ohne Eltern brauchen jetzt unsere Hilfe. Europa & Österreich hat, da bin ich zuversichtlich, die Größe & Menschlichkeit, jetzt das Richtige zu tun. Es sind genau jene Momente, die uns zeigen, in welchem Europa wir leben“, schrieb Van der Bellen.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, sprach davon, mit der ÖVP in Dialog zu treten, auch wenn die Fronten verhärtet seien. „Fakt ist, wir haben aktuell keine Mehrheit im Parlament“, so Ernst-Dziedzic. Selbst wenn die Grünen mit den Oppositionsparteien SPÖ und NEOS stimmen würden und damit gegen den Koalitionspartner – also einen Koalitionsbruch begehen würden –, kämen sie gemeinsam auf nur 81 Stimmen, während die ÖVP und die FPÖ auf 101 Stimmen im Nationalrat kommen. „Ich fände es unverantwortlich zu sagen: ‚Gut, wir riskieren das trotzdem‘ und verbauen uns hier die Möglichkeiten, mit dem Koalitionspartner und anderen Stakeholdern zu schauen, was wir akut tun können in der derzeitigen Situation.“

Andreas Pfeifer (ORF) über die Lage in Moria

Andreas Pfeifer (ORF) spricht über die vielen obdachlosen Flüchtlinge nach der Brandkatastrophe in Moria.

„Keine kurzfristigen Phänomene“

Zur Aussage von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), der die mutmaßliche Brandstiftung in Moria durch Geflüchtete mit den Worten „Gewaltbereite Migranten haben keine Chance auf Asyl in Europa“ kommentierte, sagte Ernst-Dziedzic, dass knapp 13.000 Menschen „nicht unter Generalverdacht“ gestellt werden könnten. Auch sei es zynisch zu glauben, dass die Bilder von überfüllten Camps als „Abschreckung“ für mögliche neue Migranten dienen würden. „Flucht und Migration sind keine kurzfristigen Phänomene.“ Die rot-grüne Wiener Stadtregierung wiederholte am Donnerstag ihren Appell an den Bund, 100 Flüchtlingskinder aus Moria auf Lesbos aufzunehmen – mehr dazu in wien.ORF.at.

Die griechische Regierung teilte Donnerstagnachmittag mit, Migranten selbst hätten den Großbrand gelegt. „Das Feuer wurde von Menschen gelegt, die Asyl beantragt haben – als Reaktion auf die wegen des Coronavirus verhängte Quarantäne (in Moria)“, sagte der Sprecher der konservativen Regierung, Stelios Petsas, am Donnerstag. Es handle sich um Menschen, die „ihr Gastland nicht respektieren“, so Petsas. Vor der Eskalation wurden 35 Personen im Lager positiv auf das Coronavirus getestet.

Das ausgebrannte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus

In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus, dieses Mal in einem Teil des Lagers, der von der vorangegangenen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Die Einrichtung, in der zu diesem Zeitpunkt rund 12.700 Menschen untergebracht waren, wurde in der Nacht auf Mittwoch großteils zerstört. Am Mittwochabend waren nach neuen Angaben der Behörden noch immer mindestens 3.500 Flüchtlinge obdachlos.

Auch SPÖ und NEOS für Aufnahme von Kindern

Für die Aufnahme von Kindern aus dem Lager sprachen sich am Donnerstag auch SPÖ und NEOS aus. „Wer Kinder verkommen lassen will, vergeht sich an den Werten Österreichs und Europas. Moria ist eine Schande und offenbart die Feigheit und Kleingeistigkeit einiger europäischer Regierungen, Kinder in Elend zurückzulassen, statt für rasche Hilfe und Lösungen zu sorgen“, sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.

Neues Feuer in Moria ausgebrochen

Im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brach in der Nacht erneut ein Feuer aus.

NEOS setzte auf Aktionismus und lud zu einer Inszenierung vor dem Außenministerium. Unterstützt wurde die Forderung nach Aufnahme von Menschen von mehreren heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und Rotes Kreuz. Auch die Bischofskonferenz meldete sich am Donnerstag zu Wort und forderte die Regierung auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager zu beteiligen – mehr dazu in religion.ORF.at.

Moria gilt als Negativbeispiel der europäischen Flüchtlingspolitik und als größtes Flüchtlingslager in der EU. Eigentlich bot Moria nur Platz für rund 2.800 Menschen, war jedoch mit einem Vielfachen davon heillos überfüllt. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu Unruhen und kleineren Bränden gekommen.