Roland Koch (Clotald, Sigismunds Aufseher), Julia Riedler (Rosaura)
Andreas Pohlmann
Erste Burg-Premiere

Mit Calderon bis nach Moria

Das Burgtheater hat den Herbst mit einem fesselnden Stück über die Freiheit eröffnet. Das barocke Versdrama „Das Leben ein Traum“ von Pedro Calderon de la Barca wird von Direktor Martin Kusej entstaubt und auf Grundsätzliches gebürstet. Was macht Isolation aus dem Menschen? Prinz Sigismund, der in einem Turm weggesperrt und versuchsweise freigelassen wird, erinnert an den Coronavirus-Shutdown. Und auch zur Tragödie auf Lesbos findet dieses gut 400 Jahre alte Stück in dieser Inszenierung einen direkten Anschluss.

Die Taxis konnten Freitagabend keine Gäste vor dem Burgtheater aussteigen lassen. Die Ringstraße war aufgrund einer Demonstration für die Flüchtlinge des griechischen Lagers Moria gesperrt. „Wir haben Platz!“ stand auf den Schildern der Kundgebung, die jedoch schon vorüber war, als das Premierenpublikum – pandemiebedingt – durch die vielen Eingänge des Hauses zu seinen Sitzplätzen geschleust wurde.

Wer noch die Misere auf Lesbos im Kopf hatte, fand in Calderons bald 400 Jahre altem Schauspiel schnell Anschluss. Bereits der Prolog, den Schauspielerin Julia Riedler im Dunklen aus dem Off spricht, kreist um Fremdheit und das Fremde in uns. Auch die erste Szene bestritt eine Ausgesetzte: Abgekämpft und schmutzig tritt Riedler in der Rolle der Rosaura auf, die wehmütig nach ihrem weggelaufenen Pferd ruft. Viel her macht Annette Murschetz’ Bühnenbild eines Haufens schwarzer Klötze. Er erinnert einmal an einen Kohlenkeller, einmal an einen gestürzten Turm; dramaturgisch fungiert er als Abschuss ins Verlies ebenso wie als Karriereleiter.

Norman Hacker (Basilius, König von Polen), Franz Pätzold (Sigismund), Andrea Wenzl (Estrella, Nichte des Königs), Roland Koch (Clotald, Sigismunds Aufseher), Johannes Zirner (Astolf, Herzog von Moskau)
Andreas Pohlmann / Burgtheater
König für einen Tag: Norman Hacker (Basilius, König von Polen), Franz Pätzold (Sigismund), Andrea Wenzl (Estrella, Nichte des Königs), Roland Koch (Clotald, Sigismunds Aufseher), Johannes Zirner (Astolf, Herzog von Moskau)

Dramaturgische Elektroschocks

Als noch unsicher war, ob das Burgtheater im Herbst überhaupt wieder spielen darf, präsentierte Direktor Kusej Ende Mai seinen Fokus für die Saison 2020/21. „Die Politik der Körper“ lautet der ebenso brisante wie naheliegende Schwerpunkt, der die Leiber als Objekte politischer Regulierungen ins Visier nimmt. „Wo finden wir verwaltete Körper und wo ihre unverwaltbaren, widerständigen Impulse? Wer besitzt Verfügungsmacht über die Körper?“, formulierte Kusej Leitfragen für eine Phase, in der Kulturinstitutionen zu Spezialisten für Virenabwehr werden müssen.

Das sprichwörtlich nackte Leben lässt in „Das Leben ein Traum“ nicht lange auf sich warten. Franz Pätzold als Prinz Sigismund liegt unbekleidet auf einem Obduktionstisch aufgebahrt. In seinem Einstiegsmonolog seziert er wie ein Pathologe den Freiheitsbegriff und fragt, womit er so ein schlimmes Schicksal verdient hat. Mehrfach wird es dunkel, und ein lauter Rumms erinnert an das Geräusch eines Schließfachs. Einmal kniet der Prinz dann auf dem Tisch, einmal wird er wie von Elektroschocks durchgeschüttelt. Diese Knall-auf-Fall-Wechsel reißen mit und legen die Latte hoch für das Stück, das im zweiten Teil zu keinem fesselnden Rhythmus mehr findet.

Roland Koch (Clotald, Sigismunds Aufseher), Komparserie
Andreas Pohlmann
Harter, lakonischer Blick auf einen Klassiker und die ihm zugrunde gelegte Machtfrage

Herrscher für einen Tag

Aber der Prinz hat nichts verbrochen, er wurde nur unter ungünstigen Sternen geboren. Sein Horoskop sagt eine Laufbahn als vatermordender Tyrann vorher. Nachdem der polnische König Basilius (Norman Hacker) nun aber gerne abdanken möchte, wagt er – altersmilde und neugierig zugleich – ein Experiment: Sein Filius soll in Schlaf versetzt und an den Hof geholt werden, wo er einen Tag lang zeigen kann, ob er zum Herrscher taugt. Roland Koch als sein Aufseher und Ersatzvater Clotald ist außer sich vor Freude: „Flieg, Adler, flieg!“ ruft der Kerkermeister seinem bewusstlosen Zögling zu. Gerade hat er ihn noch betäubt und ihm einen Sack über den Kopf gezogen.

Sack über dem Kopf? Guantanamo lässt grüßen. Die absolute Machtfülle, die sich die US-Regierung gegenüber vermeintlichen Terroristen herausnahm, war dem Hofdramatiker Calderon zu seiner Zeit kein Dorn im Auge. Sein Lehrstück wurde 1635 für den erzkatholischen spanischen Hof im Madrider Palacio Real uraufgeführt. Der Kulturwissenschafter Joseph Vogel betont im Programmheft, dass es in „Das Leben ein Traum“ weniger um ein Konzept der Freiheit geht als um Machterhalt, Thronfolge und die Einigkeit der Herrschenden gegenüber dem Volk.

Kusejs düstere Stücken drehen sich stets um den Einzelnen, große gesellschaftspolitische Statements auf der Bühne hält er für passe. „Es kann eigentlich nur noch um das Individuum gehen – ein Individuum, das schleichend am Status quo verzweifelt“, hat der Regisseur in einem früheren Interview gesagt. Auch die Coronavirus-Krise scheint diese Ansicht nicht erschüttert zu haben; sein Calderon bietet auf alle Fälle keine sozialkritischen „messages to go“.

Goldjunge als Monster

Da liegt er nun, der Gefangene, ganz in Gold gekleidet, und von den Höflingen begafft. Als eine selbst erfüllende Prophezeiung beginnt Sigismund bald zu wüten und bekräftigt Kusejs Interesse an der Figur des Barbaren. Auf den besänftigenden Gesang eines Dieners („Nessun Dorma“ aus Turandot) reagiert der Prinz, indem er ihm in den Mund greift, so als könnte er die Töne mit den Fingern zu fassen kriegen. Als Bauernopfer muss der Lakai schließlich dran glauben, denn Sigismunds Wut kennt keine Grenzen. Im Unterschied zum Originaltext, wo der Diener vom Balkon gestoßen wird, erwürgt der Prinz den zu Boden Geworfenen. Eine brutale, schwer erträgliche Szene, wohl nicht zuletzt, weil sie – ohne das nachzustellen – an die Erstickung von George Floyd gemahnt.

Der Goldjunge bekommt jedoch auch eine Ahnung von (enttäuschter) Liebe. Die erste Begegnung mit dem Vater wird in der Inszenierung ein zweites Mal wiederholt. Es geht nahe, wie mit denselben Worten einmal eine hasserfüllte Konfrontation und dann ein Reueakt voller Tränen gegeben wird. Am Hof trifft Sigismund auch die heimatlose Rosaura wieder, der er schon im Turm begegnet ist. Calderon hat neben dem Hauptplot um König Basilio und Sigismund noch ein weiteren amourösen Erzählstrang um die Figuren Rosaura, Estrella (Andrea Wenzl) und Astolf (Johannes Zwirner) geflochten. Da der Prinz auch in puncto Sex keine Triebkontrolle kennt, landet er wieder im Kittchen.

Saisonauftakt an der Burg

Martin Kusej inszeniert „Das Leben ein Traum“: Das Versdrama von Pedro Calderon de la Barca zählt zu den wichtigsten Bühnenwerken des „Goldenen Zeitalters“ in Spanien. Das Burgtheater eröffnet mit dem 1635 uraufgeführten Stück am 11. September.

Überraschendes Finale

Alles nur ein schöner Traum? Kurz noch hadert der Prinz mit seinem Schicksal, da wird er schon von Rebellen befreit, die den König stürzen möchten. Als Heerführer der Entrechteten gesellt sich Rosaura an Sigismunds Seite. Diese wandelbare, um ihre Ehre kämpfende wird in Kusejs Inszenierung zum weiblichen Alter Ego des Prinzen erhoben. Egal ob in der Hosenrolle, im hüftgepolsterten Seidenkleid oder im schlichten Korsett, die Schauspielerin Julia Riedler überzeugt mit Leidenschaft und Stolz. Als ihr ulkiger Weggefährte Clarin brilliert Tim Werths, der als einziger in diesem Stück Witze reißen darf.

Calderons Happy End besteht aus moralischer Läuterung und der Kontinuität absoluter Macht. Bei einem solchen Finale macht Kusej freilich nicht mit. Auf die streckenweise bleierne Stimmung des dritten Akts und die recht lapidare Versöhnung zwischen König und Thronfolger folgen Schlussworte, die nicht aus der Feder der Barockdichters stammen. Der Regieeinfall will, dass Rosaura ein letztes Solo erhält und eine Passage aus dem Stück „Calderon“ (1964) des Filmemachers und Autors Pier Paolo Pasolini zum Besten gibt. Wieder wird Freiheit beschworen, dieses Mal aber nicht die des Individuums, sondern jene des Kollektivs. Ein verwirrendes Ende, das aber metaphorisch die Eingesperrten in Moria und anderen Lagern der Welt hereinholt.