Unmittelbar nach ihrem Tod zeichneten sich gar heftige politische Auseinandersetzungen ab. Der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, teilte mit, der Senat würde sich trotz der bevorstehenden Präsidentschaftswahl einer Abstimmung über einen von US-Präsident Donald Trump vorgeschlagenen Kandidaten nicht verweigern.
Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden forderte hingegen, mit der Nominierung bis nach der Wahl zu warten. Gemäß der US-Verfassung bestimmt der Präsident die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs der USA, doch der Senat muss dem Vorschlag zustimmen. Eine Abstimmung nur kurz vor einer Wahl wäre äußerst ungewöhnlich. Trumps Amtszeit läuft noch bis 20. Jänner, am 3. November wird in den USA gewählt.
Erst Präsidentschaftswahl, dann Neubesetzung?
„Die Wähler sollten über den Präsidenten entscheiden, und der Präsident sollte dem Senat einen Richter vorschlagen“, forderte Biden vor Medien am Freitag. „Diese Position haben die Republikaner im Senat 2016 eingenommen, als noch fast zehn Monate bis zur Wahl blieben. Und das ist die Position, die der Senat auch heute einnehmen muss.“ McConnell hatte sich im Februar 2016 geweigert, den vom damaligen Präsidenten Barack Obama vorgeschlagenen Nachfolger für den gestorbenen konservativen Richter Anthony Scalia zur Abstimmung zu stellen. Er begründete das damit, dass die Wahl, die 250 Tage später stattfand, zu kurz bevorstehe.
Ginsburg selbst hatte einem Bericht des Senders NPR zufolge kurz vor ihrem Tod ebenfalls die Hoffnung geäußert, dass ihr Nachfolger erst nach der Wahl bestimmt werde. Wenige Tage vor ihrem Tod diktierte sie demnach ihrer Enkelin Clara Spera ihren „letzten Willen“: „Mein sehnlichster Wunsch ist, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident eingesetzt wurde.“
Barbara Wolschek: Wirbel um Ginsburgs Nachfolge
Die US-Justiz verliert eine große Persönlichekeit, in der Politik entsteht dadurch ein großer Wirbel. Warum die Diskussion um die Nachbesetzung des Supreme Court jetzt so schnell losgeht, erläutert ORF-Außenpolitik-Redakteurin Barbara Wolschek.
Auch Obama äußerte sich dazu, die Position der verstorbenen Justizlegende nicht in der aktuellen Amtszeit seines Nachfolgers Trump nachzubesetzen. Im Wahljahr 2016 hätten die Republikaner „das Prinzip erfunden, dass der Senat eine Vakanz im Supreme Court nicht füllen sollte, bevor ein neuer Präsident vereidigt wird“, sagte er. Ein Grundsatz von Recht und Fairness sei, dass Regeln einheitlich angewendet werden, und nicht abhängig davon, was gerade vorteilhaft sei. Obama betonte, Entscheidungen des Gerichts würden in den kommenden Jahren bestimmen, „ob unsere Wirtschaft fair und unsere Gesellschaft gerecht ist, ob Frauen gleichberechtigt behandelt werden, ob unser Planet überlebt und unsere Demokratie bestehen bleibt“.
Letztes Wort in Grundsatzfragen
Ginsburg war 1993 vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton zur Richterin am Supreme Court ernannt worden und war unter anderem wegen ihres Einsatzes für Frauenrechte im liberalen Spektrum der USA äußerst beliebt. Die Entscheidung über ihre Nachfolge dürfte nun zu einem wichtigen Thema des Präsidentschaftswahlkampfs werden. In dem neunköpfigen Richterkollegium haben die konservativen Kräfte bereits ein Übergewicht, das bei Berufung eines konservativen Nachfolgers für Ginsburg nun weiter ausgebaut werden könnte.
Das Oberste Gericht hat in den USA oft das letzte Wort bei umstrittenen Grundsatzfragen zu Streitthemen wie Abtreibung, Einwanderung, Waffenrecht und Diskriminierung. Zuletzt weitete der Supreme Court ein historisches Bürgerrechtsgesetz auf Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender aus. Von den neun Richterinnen und Richtern des Supreme Courts werden nun noch drei klar dem liberalen Lager zugerechnet.
Trauer in den USA
Insbesondere in den USA, aber auch andernorts trauern die Menschen um Ginsburg, die als Ikone der Bürgerrechtsbewegung galt. Nach Bekanntwerden ihres Todes versammelten sich vor dem Gericht in Washington Hunderte Menschen. Trump ordnete an, dass Flaggen auf dem Weißen Haus und staatlichen Gebäuden für einen Tag auf halbmast gesetzt werden.
US-Höchstrichterin gestorben
Die US-Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Ihr Tod so kurz vor der Präsidentenwahl hat sofort einen Streit um ihre Nachfolge ausgelöst.
Der US-Präsident würdigte Ginsburg als „Titanin des Rechts“, die „alle Amerikaner und Generationen großartiger juristischer Denker inspiriert“ habe. Er äußerte sich zunächst nicht zum Nachfolgestreit. Im August hatte er allerdings in einem Radiointerview gesagt, er werde „ganz sicher“ die Gelegenheit dazu ergreifen, falls sie sich ihm bietet. „Richterin Ginsburg ebnete den Weg für so viele Frauen, auch für mich“, schrieb indes die frühere demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton auf Twitter. Sie habe daran geglaubt, dass Gleichheit vor dem Gesetz für jeden Amerikaner gelten müsse. Obama würdigte Ginsburg als „eine Kriegerin für die Gleichberechtigung der Geschlechter“.
„Mussten anderen Weg finden“
Die Filmregisseurin Ava DuVernay teilte unterdessen ein Video auf Twitter, in dem Ginsburg ihren schwierigen, doch auch von Glück geprägten Werdegang als Richterin beschreibt. In dem Interview mit dem Sender NPR erzählte die schon hochbetagte Richterin auf die Frage, ob sie in ihrem Leben irgendetwas bereue, von einem Gespräch mit der früheren US-Richterin Sandra Day O’Connor. So habe Connor zu Ginsburg gesagt: „Stell dir vor, wir wären Juristinnen geworden, wenn weibliche Anwältinnen am Gericht willkommen gewesen wären. Dann wären wir heute Partnerinnen im Ruhestand irgendeiner Kanzlei.“ Ginsburg ergänzte im Gespräch mit NPR: „Aber weil dieser Weg für uns nicht offen war, mussten wir einen anderen finden – und so schafften wir es beide in den US-Supreme-Court.“
Auch aus Europa kamen Kondolenzbekundungen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen würdigte die verstorbene Verfassungsrichterin als „Pionierin für Frauenrechte, Recht und Gesetz“. „Sie hat bewiesen, dass Frauen an alle Orte der Macht gehören, an denen Entscheidungen getroffen werden“, so die erste Chefin der EU-Kommission am Samstag auf Twitter. Ginsburgs Vermächtnis werde weiterhin viele Menschen inspirieren.