Die behandelnden Ärzte halten „aufgrund des bisherigen Verlaufs und des aktuellen Zustandes des Patienten eine vollständige Genesung für möglich“, so die Klinik weiter. „Eventuelle Langzeitfolgen der schweren Vergiftung können aber erst im weiteren Verlauf beurteilt werden.“ Nawalny hatte nach Klinikangaben 24 Tage auf einer Intensivstation gelegen. Zuletzt hatte sich sein Zustand gebessert.
Zum aktuellen Aufenthaltsort Nawalnys machte die Charite keine Angaben. „Die öffentliche Mitteilung zum Gesundheitszustand von Herrn Nawalny erfolgt im Einvernehmen mit ihm und seiner Ehefrau“, hieß es nur. Laut seiner Sprecherin Kira Jarmysch hält sich der Oppositionspolitiker weiter in Deutschland auf. „Seine Behandlung ist noch nicht abgeschlossen“, sagte Jarmysch in einem kurzen Video, das sie auf Twitter veröffentlichte. Wo genau Nawalny sich aufhalte, sagte sie nicht. Sein Team hatte stets darauf hingewiesen, dass Nawalny auf jeden Fall nach Russland zurückkehren werde.
Nach seiner Entlassung veröffentlichte der Kreml-Kritiker ein Foto von sich. Auf seiner Instagram-Seite zeigt sich Nawalny auf einer Bank in einer Grünanlage mit ernster Miene sitzend. Er werde jetzt täglich zur Physiotherapie gehen und womöglich ein Rehabilitationszentrum aufsuchen, schrieb er. Er lerne, den Gleichgewichtssinn wiederzuerlangen, indem er auf einem Bein stehe. Seine linke Hand sei noch teilweise gelähmt. Nawalny dankte der Klinik für die Behandlung.
Nawalny dokumentierte Genesung via Instagram
Der 44-Jährige hatte seinen Weg der Genesung zuletzt mit mehreren Instagram-Fotos dokumentiert. Er dankte bereits in einer am Samstag veröffentlichten Nachricht den „brillanten Ärzten“ der Klinik. Noch vor Kurzem habe er nicht einmal Menschen erkannt und nicht begriffen, wie das Reden geht.
„Das hat mich zur Verzweiflung getrieben, weil ich ja im Grunde schon verstanden habe, was der Doktor will, aber ich wusste nicht, woher ich die Worte nehmen soll.“ Nawalny wies dabei auch darauf hin, dass es noch viele Probleme zu lösen gebe. Das Telefon fühle sich in der Hand an wie ein Stein. „Und sich selbst Wasser einzuschenken ist eine richtige Attraktion.“
Er war am 22. August in die Charite eingeliefert worden, nachdem er zwei Tage zuvor während eines Fluges in Russland zusammengebrochen war – nach Angaben der deutschen Regierung wurde Nawalny „zweifelsfrei“ mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Die Regierung sei „sehr erleichtert“, dass sich Nawalnys Zustand so gut entwickelt habe, sagte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert. Angaben zu Nawalnys Aufenthaltsort oder Schutzmaßnahmen machte er nicht.
Kreml: „Erfreut“
Moskau weist den Verdacht vehement zurück, staatliche russische Stellen könnten Nawalny gezielt vergiftet haben. Man sei erfreut, dass die Genesung des 44-Jährigen voranschreite, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch in Moskau. Der russische Oppositionspolitiker könne genau wie jeder andere Russe in sein Heimatland zurückkehren.
Jetzt werde man sehen, ob Nawalny nach seiner Rückkehr mit russischen Sicherheitsbehörden sprechen und Informationen über seinen Fall teilen wolle. Das Umfeld von Präsident Wladimir Putin habe jedenfalls keinen Zugang zu den verbotenen chemischen Kampfstoffen der Nowitschok-Gruppe.
„Le Monde“: Putin spekuliert über Selbstvergiftung
Einem Zeitungsbericht zufolge brachte Putin gar eine mögliche Selbstvergiftung des Kreml-Kritikers ins Spiel. Die französische Zeitung „Le Monde“ (Mittwoch-Ausgabe) berichtete, Putin habe bei einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Vermutung geäußert, Nawalny könnte sich das Nervengift selbst verabreicht haben.
Bei dem Telefongespräch mit Macron am 14. September brachte Putin laut dem Bericht mehrere Thesen vor, wie es ohne Einmischung russischer Stellen zu der Vergiftung Nawalnys gekommen sein könne. Er verwies neben der Selbstvergiftung auf eine mögliche Verbindung nach Lettland, wo der Hersteller des Nervengifts lebe. Macron wies diese Vermutungen nach den Informationen von „Le Monde“ entschieden zurück.
„Putin hat mich durchschaut“
Nawalny selbst machte sich auf Instagram über die Mutmaßungen lustig: „Ich habe Nowitschok in der Küche gekocht“, schrieb er dort ironisch: „Davon habe ich etwas aus meinem Flachmann im Flugzeug geschluckt.“ Er fügte hinzu: „Putin hat mich durchschaut. Man kann ihn einfach nicht täuschen.“
Bei der französischen Regierung ging zuvor ein Rechtshilfegesuch der russischen Behörden zum Fall des vergifteten Kreml-Kritikers ein. Das Gesuch werde geprüft, teilte das Außenministerium am Dienstag in Paris mit. Die Priorität der französischen Regierung liege aber darauf, dass Moskau „die Umstände und Verantwortlichkeiten hinter dem Mordversuch“ an Nawalny aufkläre, der auf russischem Territorium verübt worden sei, so ein Ministeriumssprecher.
Labore in Frankreich und in Schweden hatten den Befund eines Speziallabors der deutschen Bundeswehr bestätigt, wonach der prominente Putin-Kritiker „zweifellos“ mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde. Die Substanz war in der früheren Sowjetunion entwickelt worden.
Nawalny-Team: Wasser in Hotel war vergiftet
Der Kreml wies zuletzt auch Darstellungen von Nawalnys Team zurück, er sei vermutlich in einem Hotel in Tomsk in Sibirien vergiftet worden. Das Team hatte dort nach eigenen Angaben eine Wasserflasche sichergestellt, bei der ein Labor in Deutschland Nowitschok-Spuren gefunden habe.
Macron fordert von Moskau Aufklärung
Frankreichs Staatschef forderte bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen (UNO) von Russland erneut Aufklärung im Fall Nawalny. Alles müsse ans Licht gebracht werden, sagte Macron gestern in einer vorab aufgenommenen Videobotschaft, die auf Bildschirmen in den Sitzungssaal der UNO-Vollversammlung übertragen wurde. „Dieser Klärungsprozess muss schnell und ohne Mängel passieren.“ Macron warnte, die „roten Linien“ Frankreichs dürften nicht überschritten werden. Sowohl Frankreich als auch Russland sind ständige Mitglieder und damit Vetomächte im UNO-Sicherheitsrat.