Das Brandenburger Tor am 3. Oktober 1990
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Weder dagegen „noch besonders begrüßt“

Wien und das „Gespenst der Wiedervereinigung“

Mit der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wiedervereinigung ist die rund 40-jährige Teilung Deutschlands beendet worden. Kanzler Franz Vranitzky (SPÖ) sprach damals von einem „Tag der Genugtuung, der Freude und der Hoffnung“ – dabei schien zuvor lange offen, wie mit dem „Gespenst der deutschen Wiedervereinigung“ umzugehen sei.

Zwar sprach Außenminister Alois Mock (ÖVP) und damit ein früher Fürsprecher der deutschen Wiedervereinigung nach dem Mauerfall von einer Chance zur Beendigung der „leid- und schmerzvollen Teilung Europas“. Die Diplomaten des von Mock angeführten Außenministeriums konnten sich dennoch „zu keiner klaren Prognose zu den zukünftigen Entwicklungen durchringen“, wie die Historikerin Andrea Brait in einem Beitrag der deutschen Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) schreibt.

Daran habe auch die im November 1989 von der österreichischen Botschaft in Westdeutschlands Hauptstadt Bonn gespürte „Erwartung baldiger Wiedervereinigung“ zunächst wenig geändert. An die Regierung in Wien richtete man die Empfehlung „zunächst abwarten“. Man wollte offensichtlich keine vorschnellen Schlüsse ziehen – und ganz in diesem Sinn setzte Kanzler Vranitzky ohnehin weiter „auf eine Politik der Äquidistanz und des Abwartens“.

Festhalten an Besuchsdiplomatie

„Bezeichnend für diese Grundeinstellung“ sei es dem BPB-Beitrag zufolge, dass Vranitzky am 24. November und somit nur rund zwei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer in die DDR reiste. Vranitzky war damit der erste westliche Regierungschef, der dem neuen DDR-Regime unter Hans Modrow einen Besuch abstattete.

Und selbst als sich eine deutsche Wiedervereinigung immer deutlicher abzeichnete, wurde von Österreich die Besuchsdiplomatie mit der DDR weiter fortgesetzt. Nach Modrows Gegenbesuch im Jänner vereinbarte Mitte Juli 1990 DDR-Kulturminister Herbert Schirmer bei einem Treffen mit seiner Amtskollegin Hilde Hawlicek (SPÖ) in Wien schließlich noch eine Reihe von Kulturaustauschprojekten.

Schirmer war Mitglied vom Kabinett des CDU-Politikers Lothar de Maiziere, der nach der im März abgehaltenen letzten Volkskammerwahl Kurzzeitregierungschef Modrow ablöste. Schließlich reiste am 25. Juli auch der erste frei gewählte und gleichzeitig letzte DDR-Regierungschef nach Wien, womit es in der mit Österreich gepflegten Besuchsdiplomatie noch zu einem Finale auf höchster Ebene kam.

Der damalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow und der damalige österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky bei einem Treffen im Jahr 1990
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Modrow und Vranitzky im Jänner 1990 in Wien

„Unentrinnbar“

De Maizieres Wahl gilt als zentraler Meilenstein auf dem Weg zur Deutschen Einheit. Geht es nach dem Politikwissenschaftler und langjährigen Diplomaten Thomas Nowotny, war die Vereinigung der damaligen zwei deutschen Staaten aber bereits lange zuvor „unentrinnbar“. Gegenüber ORF.at hob Nowotny in diesem Zusammenhang die 1988 von der Sowjetunion aufgehobene Breschnew-Doktrin hervor.

Damit habe Sowjetführer Michael Gorbatschow dem langjährigen DDR-Staatschef Erich Honecker „klargemacht, allein für sein und das Geschick seines Landes verantwortlich zu sein“. Nach dem Fall der Berliner Mauer sei die Regierung des Reformkommunisten Modrow zwar weiter davon überzeugt gewesen, dass die DDR fortbestehen könnte, aber die Bevölkerung „sah das anders. Sie wollte die Vereinigung mit Westdeutschland und sie hat sich damit durchgesetzt.“

Als „Gerede“ abgetan

Dennoch fand sich rund um den Mauerfall in den Planspielen der österreichischen Diplomatie nicht nur die Option eines Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten. „Dass die deutsche Wiedervereinigung 1989 überhaupt an Relevanz gewann“, habe viele vielmehr überrascht, heißt es dazu von Philipp Greilinger und Sarah Knoll im Sammelband „Europa und die deutsche Einheit“.

Feiern am Berliner Brandenburger Tor zur Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990
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Das „Gerede“ um die Wiedervereinigung wurde am 3. Oktober 1990 Realität

Die beiden Autoren erinnern in diesem Zusammenhang an das von Nowotny im September 1989 geortete „Gespenst der deutschen Wiedervereinigung“. Der Diplomat habe damit auf die damals noch weitverbreitete Position verwiesen, wonach sich kein europäischer Staat eine deutsche Wiedervereinigung wünsche. Gegenteilige Behauptungen hätten sowohl die Botschaftsvertreter in Bonn als auch jene in Ostberlin als nicht ernstzunehmendes Gerede abgetan.

Buchhinweis

Michael Gehler, Maximilian Graf: Europa und die deutsche Einheit, Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen. Verlag Vandenhoeck + Ruprecht, 848 Seiten, 61,70 Euro.

„Nowotny hingegen befand, dass die Möglichkeit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten durchaus an politischer Realität gewann“, so Greilinger und Knoll, die den Diplomaten dann noch wie folgt zitieren: „Ob es zu dieser Wiedervereinigung tatsächlich kommt, ist natürlich unsicher. Ausgeschlossen werden kann sie jedenfalls nicht.“

Schneller als erwartet

Die Wiedervereinigung ist nach den Worten von Greilingers und Knolls Schlussbetrachtung dann weit „schneller gekommen, als die Diplomaten am Wiener Ballhausplatz es voraussagten und für möglich gehalten hatten“. Österreich war damit allerdings nicht allein, habe „die Geschwindigkeit dieser Entwicklung, die im Oktober 1990 zum friedlichen Vollzug der deutschen Einheit führte“, doch den Großteil der internationalen Staatengemeinschaft überrascht.

Nach dem Tag der deutschen Einheit waren die nicht nur in Österreichs geäußerten Befürchtungen des Jahres 1990 – darunter auch, dass aus einem wiedervereinten Deutschland ein „Viertes Reich“ entstehen könnte – schnell vergessen, wie Brait dazu anmerkt.

Vielmehr seien die österreichischen Reaktionen am 3. Oktober 1990 weitgehend der allgemeinen Jubelstimmung gefolgt – wenngleich Österreich laut einer dem damaligen Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, zugeschriebenen Einschätzung weder gegen die deutsche Wiedervereinigung agitierte, „noch haben wir sie besonders begrüßt“.