Schriftstellerin Ruth Klüger
APA/Herbert Neubauer
1931–2020

Ruth Klüger ist tot

Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Susanne Ruth Klüger ist tot. Die österreichisch-US-amerikanische Schriftstellerin und Wissenschaftlerin und Überlebende des Holocaust starb kurz vor ihrem 89. Geburtstag in der Nacht auf Dienstag nach langer Krankheit im Kreis ihrer Familie in Kalifornien, wie der Zsolnay Verlag in Wien am Mittwoch mitteilte.

Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hatte zeit ihres Lebens eine klare Haltung zur Nazi-Vergangenheit Deutschlands und Österreichs: „Wir Überlebende sind nicht zuständig für Verzeihung“, sagte sie in Bezug auf ihren Umgang mit dem Holocaust. „Ich halte Ressentiments für ein angebrachtes Gefühl für Unrecht, das nicht wiedergutzumachen ist.“ Zu groß seien die Enttäuschungen, die Kränkungen, die Trauer um von den Nazis getötete Menschen gewesen.

Klüger wurde am 30. Oktober 1931 als Tochter eines jüdischen Frauenarztes in Wien geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter wurde sie im September im Alter von zehn Jahren von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert, dann nach Auschwitz-Birkenau und später nach Christianstadt.

Schriftstellerin Ruth Klueger macht eine Rede vor dem Bundestag in Berlin
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Klüger überlebte den Holocaust. „Ich halte Ressentiments für ein angebrachtes Gefühl für Unrecht, das nicht wiedergutzumachen ist.“

Emigration in die USA

Die Lyrik half ihr eigenen Angaben zufolge schon als Jugendliche, die Gefangenschaft zu überleben. Als damals Zwölfjährige dichtete sie im Vernichtungslager Auschwitz: „Fressen unsere Leichen Raben?/Müssen wir vernichtet sein?/Sag, wo werd ich einst begraben?/Herr, ich will nur Freiheit haben/und der Heimat Sonnenschein.“ Auf einem Todesmarsch von Lager zu Lager gelang ihr mit ihrer Mutter die Flucht.

Hinweis

Ö1 sendet am 15. und 16. Oktober 2020 um 21.00 Uhr bzw. 16.05 Uhr jeweils ein knapp einstündiges Gespräch, das Renata Schmidtkunz mit Ruth Klüger führte – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Nach Ende des Krieges lebte Klüger gemeinsam mit ihrer Mutter in Bayern, 1947 wanderten sie in die USA aus. In New York und in Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien studierte Klüger Bibliothekswissenschaften und Germanistik, wurde Expertin für mittelalterliche Literatur, Hochschullehrerin und Literaturkritikerin. Jahrzehntelang veröffentlichte Klüger nur als Wissenschaftlerin. Sie lehrte Germanistik an der University of Virginia, in Princeton und an der University of California in Irvine.

Einstieg ins literarische Fach Ende der 80er

Den Wechsel ins literarische Fach machte sie erst Ende der 1980er Jahre nach einem Verkehrsunfall im deutschen Göttingen, bei dem sie lebensgefährlich verletzt wurde. Erst danach begann sie, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben. In ihrer 1992 veröffentlichten Biografie „weiter leben – eine Jugend“ schilderte sie ihre Kindheit in Wien, ihre Jugend in Konzentrationslagern und die Nachkriegszeit in Bayern. Diese Autobiografie wurde in zehn Sprachen übersetzt.

Schriftstellerin Ruth Klüger unterhält sich mit Ute Bock
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Klüger mit der Flüchtlingshelferin Ute Bock (l.) bei der Verleihung des Theodor-Kramer-Preises 2011

Im zweiten, 2008 veröffentlichten Teil „unterwegs verloren“ beschrieb sie ihre Emigration in die USA. Zu den bekanntesten weiteren Werken Klügers zählen „Frauen lesen anders“ (1996), „Katastrophen. Über deutsche Literatur“ (1997) und „Was Frauen schreiben“ (2010). Unter dem Titel „Zerreißproben“ (2013) versammelte sie erstmals ihre seit 1944 entstandenen Gedichte.

Ihre Vorliebe für das Autobiografische und Sachliche blieb zeit ihres Lebens: „Ich hab’s mehrmals versucht, aber ich kann keine G’schichterln erzählen.“ Umso mehr bewundere sie Romanciers und Geschichtenschreiber.

Zahlreiche Auszeichnungen

Zuletzt erschienen „Was Frauen schreiben. Essays“ (2010) und „Zerreißproben. Kommentierte Gedichte“ (Zsolnay, 2013), „Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten“ (Mandelbaum, 2016) und „Gegenwind. Gedichte und Interpretationen“ (Zsolnay, 2018). Klüger schrieb auch unter dem Namen Ruth Angress.

Die Autorin erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik (1997), den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (2001), die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen (2003), den Roswitha-Preis (2006), den Lessing-Preis (2007) und den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Exil (2011).

„Unlösbarer Knoten“

Als ihr 2015 das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen wurde, bezeichnete der damalige SPÖ-Kulturminister Josef Ostermayer diese Würdigung als „ein kleines Stück der Wiedergutmachung“. Auch damals fand Klüger gegenüber der Stadt, die sie vertrieben hatte, kritische Worte. Wien sei für sie eine „Schaukel zwischen Ressentiment und Versöhnungsversuch, aber auf jeden Fall ein unlösbarer Knoten“. Klüger: „Bevor ich aus Österreich auswanderte, habe ich nicht dazugehört.“

Ein Jahr später erhielt sie den Ehrenpreis des bayrischen Ministerpräsidenten im Rahmen des Bayerischen Buchpreises. Begründet wurde dieser Preis damit, dass Klügers Bücher „eine eindringliche Mahnung zu Verantwortung, Menschlichkeit und wacher Aufmerksamkeit“ seien.

„Frau von Courage“

„Und wieder ist eine Stimme verstummt“, reagierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen. "Mit Ruth Klüger verlieren wir eine außergewöhnliche Persönlichkeit, der es gelungen ist, unterschiedlichste Welten der Sprache zu verbinden, ohne dabei auf die Unterschiede dieser Welten hinzuweisen. Sie war eine streitbare und vor allem sehr direkte Zeitgenossin“, so die Kultursprecherin der Grünen, Eva Blimlinger.

Als „Frau von Courage und intellektueller Brillanz“ würdigte Grünen-Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer die Autorin und Wissenschaftlerin: „Ruth Klüger war kompromisslos, aber sie war auch verständnisvoll. Klar und deutlich brachte sie zum Ausdruck, dass der Holocaust kein historischer Betriebsunfall war und kollektive Opferthesen aufseiten der Täter nicht der historischen Wahrheit entsprachen.“

Die Wiener SPÖ-Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler sieht in Klüger eine „Brückenbauerin deutscher Sprache“. Sie habe sich „die Sprache der Täter ihrer Jugend“ nicht nehmen lassen. Das mache Klügers Werk zu einem „verbindenden Element zwischen unterschiedlichen Generationen und Nationen“. Tief betroffen vom Tod Klügers zeigten sich auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch.