Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer
Austin Hargrave
Dokuporträt

Als Dr. Ruth Amerika den Sex erklärte

Größe ist egal, und wen Sie lieben, geht niemanden etwas an, Respekt und Einverständnis vorausgesetzt: Die Doku „Frag Dr. Ruth“ porträtiert die legendäre Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer – und ist einer der Höhepunkte des diesjährigen Jüdischen Filmfestivals.

Universitätsprofessorin, Sexualtherapeutin, Holocaust-Überlebende und 145 cm pure Energie: Westheimer war in den 80er und 90er Jahren in den USA eine der wichtigsten Zerstörerinnen von Scham und Prüderie, als Radioberaterin, in Fernsehtalkshows und als Autorin von Dutzenden Büchern über lustvolle und sichere Sexualität. Die heute 92-jährige, nach wie vor überwältigend quirlige Dame ist sich seit 40 Jahren nicht zu schade, Talkshowmaster, Rapstars und alle anderen, die sich ihr im US-Fernsehen zu stellen wagen, auf ihre sexuellen Unsicherheiten und deren Überwindung anzusprechen.

Westheimer tut das mit legendärem Charme und charakteristischem deutschen Akzent – „Oh, da hinten im Publikum ist ein kleiner Mann! Kleine Menschen sind die besten Liebhaber, müssen Sie wissen!“ – und enormem Sachverstand. Seit den frühen 80ern, als sie die nächtliche Radiokolumne „Sexually Speaking“ startete, hat sie sich ihren Status als Popkulturikone echt verdient. Nun kommt mit „Fragen Sie Dr. Ruth“ ein Porträt von Westheimer ins Kino, unter der Regie von Ryan White.

Scharfschützin, Kindergärtnerin, Sexualtherapeutin

Eine dermaßen charismatische Person mit einer so vielfarbigen Lebensgeschichte ist als Filmthema ein Geschenk – und White gelingt es bis auf wenige Sequenzen, das Beste daraus zu machen: „Fragen Sie Dr. Ruth“ umreißt nicht nur Westheimers Bedeutung in Sachen sexueller Kompetenz und Schambefreiung in den berüchtigt prüden Vereinigten Staaten, sondern erzählt auch die Geschichte der kleinen Karola Ruth Siegel, wie sie damals hieß, die als Zehnjährige auf einem Kindertransport in die Schweiz verschickt wurde.

Das kleine Mädchen schlug sich ohne Eltern im Kinderheim durch. Während sie dort den Krieg überdauerte und als Flüchtlingskind schikaniert wurde, verlor sie ihre Eltern: Beide wurden im KZ Auschwitz ermordet. Sie erlebte unterdessen in der Schweiz ihre erste geheime Kinderliebe. 1945 ging sie nach Palästina, ließ sich von einer zionistischen Untergrundorganisation zur Scharfschützin ausbilden, später zur Kindergärtnerin, studierte Psychologie an der Sorbonne in Paris und fand in New York ein neues Zuhause, wo sie zum ersten Mal heiratete.

Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer
Filmladen
Dr. Ruth: Aufklärerin bis ins hohe Alter

Aufklärerin in jeder Hinsicht

Ihre aufklärerische Arbeit ist heute, da überlebensnotwendige Institutionen wie „Planned Parenthood“ und die Möglichkeit zu legalem Schwangerschaftsabbruch in den USA in Gefahr sind, womöglich wichtiger denn je – zumal angesichts der bevorstehenden Neubesetzung im Supreme Court nach dem Tod der Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg durch die Erzkonservative Amy Coney Barrett.

Das Jahr 2020 markiert in Westheimers Leben ein neues Kapitel. Sie bezeichnete sich selbst nie als Feministin, nur so viel: „Meine Enkelin sagt, ich bin eine.“ Während der Aids-Krise positionierte sich sich klar gegen Homophobie. Aber sie äußerte sich nie parteipolitisch. Kurz vor ihrem 92. Geburtstag, im Juni 2020, nahm sie jedoch an den Protesten gegen Rassismus und Polizeibrutalität in New York teil.

Mauern niederreißen

„Fragen Sie Dr. Ruth“ ist Teil des diesjährigen Jüdischen Filmfestivals, das von 7. bis 21. Oktober läuft und sich gleich mehreren bemerkenswerten historischen Frauenfiguren widmet, etwa der Gründerin der wichtigsten israelischen Bademodenfirma „Gottex“ in der israelischen Doku „Mrs. G“ (2019) und der Künstlerin Charlotte Salomon im Spielfilm „Charlotte“ aus dem Jahr 1980. Das Festival steht in diesem Jahr unter dem anspielungsreichen Titel „Reißt die Mauern nieder“, der Bogen reicht von 30 Jahren Wiedervereinigung Deutschlands über die „Mauern in unseren Köpfen“ bis zu konkreten Mauern, die Nachbarn trennen, wie die Israelische Mauer zum palästinensischen Westjordanland.

Szene aus dem Film „Crescendo“
Stadtkino
Eröffnung mit „Crescendo“: mit Musik Grenzen überwinden

Das wird auch beim Eröffnungsfilm deutlich, der ab Freitag zudem regulär im Kino zu sehen sein wird, Dror Zahavis „Crescendo“, einer durch und durch hoffnungsvollen Geschichte um ein Jugendorchester aus israelischen und palästinensischen Musikerinnen und Musikern, die unter der Leitung eines österreichischen Dirigenten (Peter Simonischek) bei Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina auftreten sollen und dafür erst ihre eigenen Hindernisse überwinden müssen, seien es schikanöse Checkpoints oder gemeine Vorurteile.

Filme gegen das Vergessen

Produziert wurde der Film von CCC, der Produktionsfirma des legendären Filmproduzenten Artur Brauner, die jetzt von seiner Tochter Alice weitergeführt wird. Brauner verstarb im vergangenen Jahr in seinem 101. Lebensjahr, ihm ist ein eigener Filmschwerpunkt gewidmet. Vor allem war er erfolgreich mit seichter Unterhaltung, doch zumindest in Nebensätzen kam fast immer der Holocaust vor. Brauner holte damit das Nichtvergessen in den Alltag – und produzierte eine Reihe von „Filmen gegen das Vergessen“, die beim Festival zu sehen sind.