Die Wahl am Sonntag fand unter besonderen Vorzeichen statt. Weit weg war das Match um Wien zwischen SPÖ und FPÖ bei der letzten Gemeinderatswahl 2015. Die FPÖ hat sich nach „Ibiza“ selbst zerstört, die Spesenaffäre von Heinz-Christian Strache offenbar das ihrige zu diesem Stimmungsbild beigetragen. Dann noch die Coronavirus-Krise. Eine Stimmung, in die Wahlkabine zu gehen, sieht anders aus. Ein Umstand, der mit Blick auf das frühere FPÖ-Wählerlager trotzdem der ÖVP am Sonntag am meisten nutzte.
„Obwohl“, so drückt es Politologe Peter Filzmaier im Nachwahlgespräch mit ORF.at aus, „auch die SPÖ davon profitierte, dass freiheitliche Wähler zu Hause geblieben sind. Denn diese hätten sich nicht so sehr von einem rot-grünen Kurs angesprochen gefühlt, und die SPÖ konnte mit der rot-grünen Regierung in diesem Segment schwer punkten, ohne an anderer Stelle wieder zu verlieren.“ Diesmal habe die SPÖ unter einem neuen Bürgermeister dazugewonnen, und es hätten auch die Grünen gepunktet. Das sei in vergangenen Wahlkämpfen, so der Politologe, anders gewesen.

Wie viel konnte die ÖVP von den Blauen holen?
Für Filzmaier ist klar, dass wenn, dann die Volkspartei von den Stimmen der Blauen profitieren konnte. Da sei zunächst schon einmal ein ähnliches Themenprofil vorhanden. Wobei früher unter Sebastian Kurz deutlich mehr Stimmen im blauen Lager geholt werden konnten, erinnert Filzmaier.
„Spitzenkandidat Gernot Blümel war bei den ÖVP-Wählern ein durchschnittliches Wahlmotiv, etwa so wie Dominik Nepp im Lager der FPÖ-Wähler mit rund zehn Prozent“, so Filzmaier, der ein höheres Potenzial bei der ÖVP gesehen hätte, blaue Stimmen zu holen. Aber, so Filzmaier, man hätte in der Coronavirus-Krise nicht noch stärker den Bundeskanzler bei der Wien-Wahl auf Doppelplakaten in Stellung bringen können.

Die Gefahr der gefestigten Nichtwähler
Und, so Filzmaier: Zeiten von Parteikrisen führten zunächst einmal zu einer Immobilisierung der Wähler. „Wähler einer Partei in Zeiten einer tiefen Krise gehen mehrheitlich ins Lager der Nichtwähler“, so Filzmaier. Die Frage sei, wie und wohin sie von diesem „Wartesaal“, in dem sie sich befänden, weiterwanderten: „Gehen sie retour zur FPÖ, wandern sie schließlich doch zur ÖVP oder werden sie zu verfestigten Nichtwählern?“ Das sei eine Frage, die sich im Moment schwer beantworten lasse.
Runde der Chefredakteure
ORF-Innenpolitikchef Hans Bürger analysierte mit der Chefredakteurin des „Kurier“, Martina Salomon, Rainer Nowak, Chefredakteur der „Presse“ und Christian Rainer, Chefredakteur des „profil“, die Wahl.
Rainer: Wo sind die Arbeiterstimmen hin?
Auf die von der SPÖ liegen gelassenen FPÖ-Stimmen verwies als Erster am Wahlabend „profil“-Chefredakteur Christian Rainer. Diese seien ja auch die Wählerstimmen von Arbeitern, und von diesen habe die SPÖ eigentlich am allerwenigsten profitiert, so Rainer, der zum Zeitpunkt seiner, wie er es selber formulierte, „gewagten These“ noch nicht die Wahlbeteiligung kannte.
Die Frage Rainers lässt sich vielleicht aber auch mit einer Fetischisierung der Arbeiterfrage beantworten – Arbeiter, das sind in Wien möglicherweise gerade jene, die schon lange hier leben, aber gar kein Wahlrecht haben.
Politik live: WAHL 20: Wien hat gewählt
Die wichtigste heimische Wahl des Jahres ist geschlagen – Wien hat gewählt. Wie geht es in der Bundeshauptstadt politisch weiter? Welche Signale haben Wählerinnen und Wähler der Politik geschickt? Wie sehr war die Wahl auch eine Abrechnung mit der Corona-Politik? Und wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die Politik auf Bundesebene aus? Über all das diskutiert ORF III-Chefredakteurin Ingrid Thurnher mit ihren Gästen:
Diese ist durch die Rahmenbedingungen der Wahl mit prognostizierten 62,6 Prozent (Schwankungsbreite: 1,5 Prozentpunkte) zwar nicht auf einem historischen Tiefststand: 2005 waren überhaupt nur 60,81 Prozent zur Wahl gegangen; und Wahlen mit einer Beteiligung im unteren 60-Prozent-Bereich sind in Wien keine Ausnahme. Nur bei der zugespitzten Wahl 2015 war Wien eindeutig stärker politisiert: Damals gingen 74,75 zu den Urnen.