Die durch Demonstranten in Brand gesetzte Kirche in Santiago, Chile.
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Proteste und Referendum

Chiles Kampf um Machtverteilung

Chile steht 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet vor einer entscheidenden Weichenstellung: Am Wochenende wird über eine neue Verfassung abgestimmt, sie soll die aktuelle, noch aus Pinochets Zeiten stammende, ablösen. Zugleich kämpft das südamerikanische Land auch weiter mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur und um eine neue Machtverteilung.

Am Jahrestag der heftigen Proteste gegen soziale Ungleichheit und die konservative Regierung in Chile wurden am Sonntag (Ortszeit) in der Hauptstadt Santiago de Chile mindestens zwei Kirchen in Brand gesteckt. Auf Fotos war zu sehen, wie der Turm der Parroquia de la Asuncion einstürzte, weil die Struktur des Gebäudes den Flammen nicht mehr standhielt. Sie ist eine der ältesten Kirchen Santiagos.

Chilenischen Medienberichten zufolge war zuvor auch die Iglesia de San Francisco de Borja angezündet worden, die regelmäßig von der Polizei für Zeremonien genutzt wird. Tausende Demonstranten hatten sich zunächst friedlich auf der Plaza Italia, von einigen auch „Plaza de la Dignidad“ (Platz der Würde) genannt, versammelt.

Luftansicht der durch Demonstranten in Brand gesetzten Kirche in Santiago, Chile.
APA/AFP/Pablo Cozzaglio
Luftaufnahme der in flammenden stehenden Kirche in Santiago de Chile

Neue Proteste vor Votum über neue Verfassung

Die Polizei hatte mit Blick auf den Jahrestag der Sozialproteste einen Großeinsatz geplant. Im Oktober und November 2019 waren in Chile täglich Tausende auf die Straße gegangen, um einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem zu fordern. Mehr als 30 Menschen kamen dabei ums Leben. Wegen ihres oft brutalen Vorgehens war die Polizei in Chile in die Kritik geraten.

Zuletzt haben die Proteste in dem südamerikanischen Land wieder zugenommen. Am 25. Oktober stimmen die Chilenen darüber ab, ob sie eine neue Verfassung wollen – das war eine der Kernforderungen der Demonstranten im vergangenen Jahr. Der aktuelle Text von 1980 stammt noch aus Zeiten der Diktatur von Pinochet.

Klares Ja erwartet

Erwartet wird, dass etwa zwei Drittel dafür stimmen, eine neue Verfassung zu schreiben. Ursprünglich war das Referendum für April geplant, wurde wegen der CoV-Pandemie aber auf Oktober verschoben. Es ist die Reaktion auf die Proteste im Vorjahr. Diese waren von der großen Ungleichheit, steigenden Preisen, zu niedrigen Pensionen und einem kaum vorhandenen Sozial- und Gesundheitssystem ausgelöst worden. Bei den häufig gewaltsamen Protesten im Vorjahr entstand auch enormer Sachschaden, der die Volkswirtschaft umgerechnet geschätzte 3,9 Mrd. Euro kostete.

Schwere Ausschreitungen in Chile

Bei Demonstrationen kam es am Sonntag in Chiles Hauptstadt Santiago zu schweren Ausschreitungen. Vor einem Jahr haben die Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit und gegen die konservative Regierung begonnen.

Der chilenische Soziologe Eugenio Tironi zeigte sich am Wochenende gegenüber der „Financial Times“ überzeugt, dass es nicht zu einer neuerlichen Protest- und Gewaltwelle wie vor einem Jahr kommen wird. Der Protest werde vielmehr in einer Reihe von anstehenden Wahlen ausgedrückt werden. Neben dem Referendum über die Einsetzung der verfassungsgebenden Versammlung am Sonntag stehen 2021 zudem Präsidentschafts-, Parlaments- und Gouverneurswahlen an.

„Wenn das Ringen um eine neue Verfassung als legitim wahrgenommen und von verschiedenen politischen Gruppen unterstützt wird, wird das helfen, die Stimmung zu beruhigen“, so Tironi. Kleine gewaltbereite Gruppen würden freilich weiterhin aktiv bleiben.

Kirchturm in Flammen
Reuters/Ivan Alvarado
Der Moment, in dem der Kirchtum einstürzt, fotografisch festgehalten

Soziologin: Mehrheit gemäßigt

Chiles Bevölkerung sei politisch grundsätzlich gemäßigt, betont wiederum die Politologin Claudia Heiss von der Universität von Chile. „Die meisten Chileninnen und Chilenen wollen einen Staat, der mehr präsent ist.“ Es gehe darum, die bisherige neoliberale Politik zu beenden und zu einem sozialdemokratischen Modell zu kommen. „Das würde eine radikale Veränderung sein, aber bedeutet nicht eine Abschaffung des Kapitalismus oder privater Eigentumsrechte.“

Einen radikalen Linksschwenk würde laut Heiss weder die Bevölkerung unterstützen noch werde es dafür die nötige Zweidrittelmehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung geben. Der Ruf nach Veränderung dürfe aber auch nicht „heruntergespielt“ werden, so Heiss.

Kein Vertrauen in Eliten

Die unter Pinochet 1980 in Kraft gesetzte Verfassung garantiert laut Kritikern weder Menschenrechte noch sieht sie einen Wohlfahrtsstaat vor. Sie beschränkt laut Kritikern zudem die Macht in den Händen einer politischen und wirtschaftlichen Elite.

Chile hat sich in den drei Jahrzehnten seit dem Ende der Diktatur in vielen Bereichen weiterentwickelt. Eine der „größten Schwächen“ sind – zumindest laut „Financial Times“ – heute die fehlende Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen und das mangelnde Vertrauen in die Eliten des Landes.

Das „konservative Establishment versteht nicht, dass die Wirtschaft nicht gut laufen wird, solange es dem politischen System an Legitimität fehlt und unsere Politik schlecht funktioniert“, sagt Ex-Finanzminister Andres Velasco, der jetzt an der London School of Economics unterrichtet.

Die Argumente der Gegner

Gegner einer verfassungsgebenden Versammlung betonen dagegen, eine neue Verfassung sei nicht legitim, wenn sie auf Druck sozialer Unruhen zustande komme. Und sie warnen laut „Financial Times“ davor, dass ein Ausbau des Sozialstaats – etwa eine bessere Gesundheitsversorgung – die Schulden Chiles in die Höhe treiben würde. Die Ratingagentur Fitch hatte in der Vorwoche mit Verweis auf höhere Sozialausgaben als Reaktion auf die Proteste das Rating von „A“ auf „A-“ gesenkt.

Für den angesehenen chilenischen Ökonomen Eduardo Engel ist eine höhere Verschuldung dagegen keine besondere Gefahr. Wenn die Verfassung für einen guten sozialen Ausgleich sorge, könne das auf Jahrzehnte für Stabilität sorgen – was wiederum der Wirtschaft nützen werde. Und auch Engel betonte gegenüber dem Wirtschaftsblatt, es sei Zeit für eine umfassende „Neuverteilung der Macht“.

Tausende Tote, viele „Verschwundene“

General Pinochet hatte 1973 mit Hilfe der USA gegen den linksgerichteten Präsident Salvador Allende geputscht. Jahrelang regierte er mit einer Militärjunta, später ließ er sich zum Präsidenten ernennen. Pinochets Herrschaft gründete auf einer gnadenlosen Verfolgung von Gegnern.

Tausende Chileninnen und Chilenen wurden vom Militär ermordet, Zehntausende gefoltert, und viele Menschen „verschwanden“ spurlos. Rund 20 Jahre nach seiner Entmachtung startete ein Prozess gegen Pinochet. Er wurde allerdings für verhandlungsunfähig erklärt und starb 2006, ohne jemals für seine Taten zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.