Mehr als 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler sprachen sich für eine Änderung der Verfassung aus, wie die nationale Wahlbehörde nach Auszählung fast aller Stimmen mitteilte. Die Wahlbeteiligung lag bei gut 50 Prozent. In Santiago de Chile wurde das Abstimmungsergebnis mit Hupkonzerten und Feuerwerken gefeiert. „Chile ist aufgewacht“, riefen Tausende Menschen auf der zentralen Plaza Italia.
Nach Bekanntwerden des Resultats appellierte Chiles konservativer Präsident Sebastian Pinera an den Zusammenhalt. Die Abstimmung sei der „Beginn eines neuen Weges, den wir alle zusammen gehen müssen“, so Pinera in einer Rede im Präsidentenpalast. Die alte Verfassung habe das Land gespalten. „Ab sofort müssen wir alle daran arbeiten, dass die neue Verfassung einen großen Rahmen schafft für Einheit, Stabilität und Zukunft“, so Pinera.
Drückende Ungleichheit
Die bisherige Verfassung stammt noch aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990). Zahlreiche Bürgerbewegungen und politische Parteien der Linken und der Mitte sahen in ihr ein Hindernis für tiefgreifende Änderungen und die Ursache eklatanter wirtschaftlicher Ungleichheiten. Die Verfassungsänderung zählte zu den zentralen Forderungen bei den Massenkundgebungen in Chile.
Ausgelöst wurden die Demos vor einem Jahr durch eine Erhöhung der Fahrscheinpreise. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden 30 Menschen getötet und Tausende verletzt. Gefordert wurden der Rücktritt der Regierung und grundlegende soziale und wirtschaftliche Reformen. Unter dem immensen Druck der Straße stimmte Pinera schließlich dem Referendum zu. Ursprünglich war es für April angesetzt, aufgrund der CoV-Krise wurde die Abstimmung jedoch verschoben.
An der aktuellen Verfassung gab es wegen ihres autoritären Ursprungs, der starken Bündelung von Machtbefugnissen bei der Zentralregierung und begrenzter Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger stets Kritik. Die Befürworter einer neuen Verfassung wollen nun die soziale Rolle des Staates stärken, Grundrechte auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung und Trinkwasser aufnehmen sowie die Anerkennung der indigenen Völker festschreiben.
Klares Nein zu Gremium mit Parlamentariern
Bei dem Referendum wurde auch über eine zweite Frage entschieden: ob eine verfassungsgebende Versammlung komplett aus eigens dafür im kommenden April zu wählenden Delegierten – je zur Hälfte Männer und Frauen – den neuen Text ausarbeiten soll, oder ob die Hälfte des Gremiums aus Parlamentariern bestehen soll. Rund 79 Prozent der Wähler entschieden sich für erstere Variante. Die Versammlung soll spätestens nach einem Jahr einen Entwurf vorlegen, über den dann wieder abgestimmt wird.