Bild zeigt die Seitenstättengasse am Tatort des gestrigen Attentates in der Wiener Innenstadt am Dienstag, 3. November 2020.
APA/Helmut Fohringer
Anschlag in Wien

Innenministerium prüft IS-Bekenntnis

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat den Anschlag in Wien mit vier Todesopfern und 23 teils schwer Verletzen für sich reklamiert. Ein „Soldat des Kalifats“ habe die Attacke mit Schusswaffen und einem Messer verübt und in der österreichischen Hauptstadt rund 30 Menschen getötet oder verletzt, darunter auch Polizisten, teilte der IS am Dienstag auf seiner Plattform Naschir News mit. Die Echtheit des Schreibens ist noch ungeklärt.

Auch aus einer IS-Erklärung auf dem Messaging-Dienst Telegram ging Dienstag Abend das Bekenntnis der extremistischen Organisation hervor. Hinweise zur Untermauerung der Erklärung gab es allerdings nicht. Das Innenministerium prüft derzeit das Bekennerschreiben. Es könne noch nicht gesagt werden, ob es echt ist oder nicht, hieß es gegenüber der APA.

In der Vergangenheit reklamierte die Terrormiliz immer wieder Anschläge für sich – auch in diesem Fall könnte der Attentäter den Anschlag möglicherweise auch nur unter einem „IS-Label“, also im Namen des IS begangen, aber selbst organisiert und durchgeführt haben, erklärte der Nahost-Experte und Politologe Thomas Schmidinger Dienstagvormittag gegenüber der APA.

Ein Mann zündet eine Kerze am Tatort des gestrigen Attentates in der Wiener Innenstadt.
APA/Helmut Fohringer
Ein Mann zündet eine Kerze am Tatort des gestrigen Attentates in der Wiener Innenstadt an und gedenkt der Opfer

Experte: Hinweise für „IS-Label“

Dafür gebe es nach dem ihm bisher bekannten Ermittlungsstand einige Hinweise, etwa die Bewaffnung, die man sich in Wien durchaus illegal beschaffen könne, so Schmidinger. „Wenn das ein Einzeltäter war, dann bräuchte er für so einen Angriff nicht notwendigerweise die logistische Unterstützung einer Organisation“, meint Schmidinger.

„Es deutet einiges darauf hin, dass das nicht in der Zentrale des IS beschlossen wurde, sondern der Grund, dass Wien das Angriffsziel war, darin begründet ist, dass der Attentäter in Wien gelebt hat und ein in Wien sozialisierter Dschihadist ist.“ Es könnte aber auch eine Mischform gewesen sein, nämlich dass der Attentäter über die Sozialen Netzwerke mit dem IS in Kontakt stand. Für eine endgültige Beurteilung sei es aber noch zu früh.

Aufräumarbeiten am Tatort des gestrigen Attentates in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt.
APA/Helmut Fohringer
Nach wie vor sind die Aufräumarbeiten in Gang – auch die Polizei zeigt Präsenz

Mann wollte sich IS anschließen

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hatte bereits am Vormittag mitgeteilt, dass es sich bei dem Attentäter, der nach dem Anschlag bei der Ruprechtskirche in der Wiener Innenstadt von der Polizei erschossen wurde, um einen 20-jährigen Mann gehandelt hatte. Der Erschossene war österreichisch-nordmazedonischer Doppelstaatsbürger und einschlägig wegen terroristischer Vereinigung (Paragraf 278b StGB) vorbestraft.

Der Mann sei zweifelsfrei ein Anhänger der radikalislamischen Terrormiliz IS gewesen. Er wurde am 25. April 2019 zu 22 Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, nach Syrien auszureisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Am 5. Dezember wurde er vorzeitig bedingt entlassen – er galt als junger Erwachsener und fiel damit unter die Privilegien des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).

Der „Standard“ hatte damals aus dem Prozess berichtet. Diesem zufolge hatte sich der junge Mann seit seiner Pubertät mit dem Islam beschäftigt und sei „in die falsche Moschee“ gekommen. 2018 sei er alleine in die Türkei gereist, dort aber zwei Tage nach seiner Ankunft von türkischen Polizisten in einem „Safe House“ der Islamisten festgenommen worden. In der Türkei saß er vier Monate in Haft, bevor er wieder nach Österreich überstellt und dort inhaftiert wurde.

Terror vor dem Lockdown

Viele Menschen haben den milden Novemberabend am Montag genutzt, um vor Inkrafttreten des Corona-Lockdowns noch einmal den Abend zu genießen. Das wurde durch den Terroranschlag jäh unterbrochen.

Nehammer ortet „Bruchlinien“

Ende vergangenen Jahres war er von den Behörden als nicht mehr gefährlich eingestuft und so frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Nehammer kritisierte die vorzeitige Entlassung des Attentäters und ortete „Bruchlinien“. Der Terrorist habe es geschafft, die Justiz zu täuschen und eine vorzeitige Entlassung zu erwirken. Es habe keine Hinweise auf eine anhaltende Radikalisierung gegeben. Nehammer betonte, es brauche Optimierung bei der Zuhilfenahme des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) bei aktuellen Gefährdern.

Innenminister Karl Nehammer zur aktuellen Lage

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) informierte am Nachmittag über den aktuellen Stand der Ermittlungen

Anwalt: An die falschen Freunde geraten

Der Wiener Strafverteidiger Nikolaus Rast, der den jungen Attentäter 2019 bei seinem Terrorprozess vertreten hatte, „hätte das nie für möglich gehalten, dass er zum Attentäter wird“. Der Mann stamme aus einer „vollkommen normalen Familie“. Er vermutete, dass sich der Mann als Teenager in einer Moschee radikalisiert habe. Sein ehemaliger Mandant sei ein orientierungsloser Jugendlicher gewesen, der einen Platz im Leben gesucht habe, so Rast.

Der spätere Attentäter sei von einem Bewährungshelfer und dem Verein Derad betreut worden, der auf die Deradikalisierung islamistischer Straftäter spezialisiert ist. Offenbar wurde er Ende des Vorjahrs als nicht mehr gefährlich eingestuft – ansonsten wäre seine vorzeitige, mit 5. Dezember erfolgte bedingte Entlassung aus dem Gefängnis nicht bewilligt worden.

„Keine Versäumnisse der Polizei“ im Vorfeld

Der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, wies Vorwürfe gegen die Polizei oder das BVT zurück. Mit der gerichtlichen Verurteilung des Täters sei die Justiz hauptzuständig gewesen – auch für die Zeit nach der vorzeitigen Entlassung. Der Täter habe offenbar alle Beteiligten getäuscht.

Er habe sich nach seiner bedingten Entlassung „geläutert gezeigt“, habe alle Auflagen – nämlich Bewährungshilfe und Deradikalisierungsprogramm – „offenbar punktgenau eingehalten“. Zuständig gewesen sei für all das die Justiz. Die Polizei habe hier keine Zuständigkeiten, erklärte Ruf im ORF-„Report“, warum die Polizei den Mann trotz einschlägiger Verurteilung nicht auf dem Radar hatte. Die Polizei brauchte für ein Einschreiten die Zustimmung des Rechtsschutzbeauftragten oder die Verfügung eines Gerichts.

Bundeskanzler Kurz: „Werden Spaltung nicht zulassen“

ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz bekräftigt, dass „wir es nicht zulassen werden, dass Terrorismus unsere Gesellschaft spaltet“.

Kurz fordert mehr Einsatz der EU gegen politischen Islam

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) übte indes scharfe Kritik an der vorzeitigen Entlassung des Attentäters. Diese Entscheidung sei mit dem heutigen Wissensstand „definitiv falsch“ gewesen, sagte er in der Sonder-ZIB, „wäre er nicht aus der Haft entlassen worden, hätte der Terroranschlag so nicht stattfinden können“. Auch plädierte Kurz für einen verstärkten Kampf gegen den politischen Islam auf europäischer Ebene.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112

Man müsse sich, meinte Kurz, die Frage stellen, warum diese Entscheidung vom Gericht so getroffen wurde. „Schuld“ für den „barbarischen, feigen islamistischen Terroranschlag“ sah der Kanzler allerdings nur bei einem: „Es gibt genau einen Schuldigen – und das ist der Attentäter.“ Jetzt gelte es, noch entschlossener gegen Terrorismus und die zugrunde liegende Ideologie anzukämpfen – und das auch auf europäischer Ebene. Das habe er in den vielen Telefonaten mit Regierungschefs nach dem Terroranschlag auch deponiert.

In der deutschen Zeitung „Welt“ sprach sich Kurz dafür aus, den Kampf gegen den politischen Islam zum Thema bei den kommenden EU-Gipfeln zu machen: „Ich erwarte mir ein Ende der falsch verstandenen Toleranz und endlich ein Bewusstsein in allen Ländern Europas, wie gefährlich die Ideologie des politischen Islam für unsere Freiheit und für das europäische Lebensmodell ist“, sagte er der Zeitung.

Bewaffnete Polizisten vor einem Einsatzfahrzeug.
APA/Georg Hochmuth
Ein Großaufgebot der Polizei war in der Wiener Innenstadt im Einsatz

Derzeit kein Hinweis auf zweiten Täter

Die Analyse zahlreicher Handyvideos vom Tatort ergab bisher keinen Hinweis auf weitere Attentäter. Das teilte Nehammer Dienstagnachmittag in einer Pressekonferenz mit. Man könne aber „noch nicht genau sagen, wie viele Täter verantwortlich sind“, weswegen die hohe Sicherheitsstufe aufrecht bleibe. Nehammer sagte zudem, dass es im Umfeld des 20-jährigen erschossenen Attentäters 18 Razzien und 14 Festnahmen gegeben habe.

Im Laufe des Tages hatte es Hausdurchsuchungen in Wien, Linz und St. Pölten gegeben. Die Festgenommenen stammen aus dem Bekannten- und Freundeskreis des 20-Jährigen. Nach ersten Erkenntnissen gab es keine Hinweise, dass sie aktiv in den Anschlag involviert waren. Anders als zuvor von Nehammer berichtet, befinden sich die 14 Festgenommenen noch nicht in U-Haft.

Spurensicherung an einem der Tatorte in der Wiener Innenstadt
Reuters/Radovan Stoklasa
Die Spurensicherung bei der Arbeit

Beweismaterial beschlagnahmt

Es gebe noch keine Anträge der Staatsanwaltschaft darauf, denn sie würden immer noch von der Polizei einvernommen, erklärte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien, Nina Bussek, am Dienstag auf Nachfrage der APA. Zwei weitere Männer wurden am Dienstag in der Schweiz festgenommen – auch sie standen möglicherweise mit dem Attentäter in Verbindung. Laut der Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter sollen sie sich auch getroffen haben.

Laut dem Generaldirektor für öffentliche Sicherheit Ruf wurden bei den Ermittlungen im Umfeld des Täters unter anderem Munitionsteile sichergestellt. Die Wohnung des Täters war mit Sprengstoff geöffnet worden, wie bereits zuvor bekanntwurde. Zusätzlich wurde umfangreiches weiteres Beweismaterial beschlagnahmt, das erst ausgewertet werden muss.

Hohe Sicherheitsstufe bleibt

Nehammer betonte, dass die hohe Sicherheitsstufe und Polizeipräsenz in der Wiener Innenstadt aufrecht bleibe, damit es nicht zu Wiederholung oder Nachahmung kommt. Das betonte Kurz gegenüber der „Bild“-Zeitung: „Die Lage ist nach wie vor angespannt“, sagte Kurz.

Es gebe die Angst vor Nachahmungstätern. Zudem wollte er nicht endgültig ausschließen, dass es nicht doch noch einen zweiten flüchtigen Täter geben könnte. „Wir gehen mittlerweile davon aus, dass es nur einen Täter gegeben hat, der sich sehr schnell bewegt hat und an sechs Orten in der Wiener Innenstadt um sich geschossen hat und eben zahlreiche Menschen hier kaltblütig ermordet hat. Aber wir haben noch keine hundertprozentige Gewissheit“, so Kurz.

Die Hinweise auf einen Einzeltäter würden sich verdichten, es gelte aktuell aber, Trittbrettfahrer abzuhalten, so auch der Wiener Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl. Laut Nehammer werde die Auswertung von 20.000 zugeschickten Handyvideos von dem Anschlag noch andauern. Nach wie vor könnten weitere Täter nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die erhöhte Warnstufe werde so lange gelten, bis das gesamte Videomaterial ausgewertet ist, sagte der Sprecher des Innenministeriums, Harald Sörös.

 Eine eingeschossene Fensterscheibe im Bereich des Tatorts des Wiener Terroranschlags
APA/Helmut Fohringer
Schäden am Tag nach dem Polizeieinsatz

Zahl der Verletzten auf 23 gestiegen

Laut Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) wurden insgesamt 23 Personen nach dem Anschlag in der Innenstadt im Spital behandelt, das ist einer mehr als zuletzt gemeldet. Von den 16 Männern und sieben Frauen waren in der Früh sieben in kritischem Zustand. Alle seien mittlerweile aus der Narkose erwacht, teilweise schwer verletzt, aber aus der kritischen Phase heraus. Von den Leichtverletzten hätten laut dem Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) zehn Personen das Spital bereits wieder verlassen können.

Abgesägte Kalaschnikow

Nehammer hatte in der Früh weitere Details zu dem Anschlag veröffentlicht: „Er war mit einer Sprengstoffgürtelattrappe und einer automatischen Langwaffe, einer Faustfeuerwaffe und einer Machete ausgestattet, um diesen widerwärtigen Anschlag auf unschuldige Bürgerinnen und Bürger zu verüben“, sagte der Innenminister. Am Nachmittag ergänzte er, der Täter habe mit einer abgesägten Kalaschnikow geschossen.

TV- und Radiohinweis

ORF2, ORF1 und ORF III sowie die ORF-Radios berichten umfassend über den Anschlag in Wien – mehr dazu in tv.ORF.at.

Eine offene Frage ist, wie der Täter an die Waffen gelangte. Es gibt Hinweise, dass er zumindest Munition in der Slowakei gekauft haben könnte. Der slowakische Innenminister Roman Mikulec sagte gegenüber dem Sender JOJ: „Ich habe die Information, dass der Angreifer bzw. einer der Täter hier gewesen sein könnte und interessiert war, Munition zu kaufen.“ Das sei „eine Information, die wir mit unseren Sicherheitskräften überprüfen“, so Mikulec. Man werde das prüfen.

Vier Menschen von Attentäter getötet

Bevor er um 20.09 Uhr selbst erschossen wurde, konnte der Attentäter vier Menschen ermorden. Ums Leben kamen ein älterer Mann und eine ältere Frau, ein junger Passant und eine Kellnerin. Eine der beiden Frauen ist deutsche Staatsbürgerin.

Augenzeuge Florian L. zu den Vorfällen

Floran L. hat die Situation auf dem Schwedenplatz miterlebt und schildert seine Erlebnisse. Er hat den Täter gesehen, konnte diesen jedoch nicht genau identifizieren.

Das Innenministerium präzisierte, an welchen Orten der Attentäter am Montagabend auf seine Opfer geschossen hatte. Er verletzte eine in einem bekannten Lokal beschäftigte Kellnerin am Ruprechtsplatz 1 tödlich. An derselben Adresse wurde der 20-Jährige später von Polizeikräften erschossen.

Der genaue zeitliche Ablauf war Dienstagmittag noch nicht geklärt. Die Polizei will jetzt die unterschiedlichen Tatorte „abgehen“ und ein Weg-Zeit-Diagramm erstellen, um festzustellen, ob das Vorgehen für einen Einzeltäter überhaupt möglich ist oder ob es weitere Täter gibt. Fest steht, dass es zumindest zwei Schusswechsel mit der Polizei gab. Um 20.09 Uhr kam es zu einem Schusswechsel mit der Sondereinheit WEGA, bei dem der Angreifer tödlich getroffen wurde.