EU-Parlament in Brüssel
ORF.at/Peter Prantner
EU nach Streit einig

Angriffe auf Justiz können teuer werden

Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz könnten für EU-Staaten wie Polen und Ungarn künftig teuer werden. Trotz Drohungen der Regierungen der beiden Staaten einigten sich Vertreter der übrigen EU-Länder und des Europaparlaments am Donnerstag auf ein Verfahren zur Kürzung von EU-Geldern bei bestimmten Verstößen. Aus Budapest und Warschau kam umgehend scharfe Kritik.

Der Vorgang kann in Gang gesetzt werden, wenn sich EU-Mitglieder nicht an Grundsätze des Rechtsstaats halten. Der Kompromiss folgt im Wesentlichen einem Vorschlag der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Demzufolge würde die EU-Kommission vorschlagen, ein Land für die Untergrabung gemeinsamer Werte zu sanktionieren, und die Mitglieder müssten diesen Beschluss mit einer qualifizierten Mehrheit bestätigen – das wären 15 der 27 Mitgliedsstaaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen.

Die Hürde für die Kürzung von EU-Mitteln wird somit höher gelegt, als vom Parlament und der Kommission im vorangegangenen Streit gefordert. Diese wollten, dass die Sanktionsempfehlungen nur durch eine qualifizierte Mehrheit verhindert werden können. Sowohl Ungarn als auch Polen hatten sich gegen den Rechtsstaatsmechanismus gestemmt. Die Einigung muss noch formell vom EU-Parlament und den Regierungen der EU-Staaten verabschiedet werden. Das gilt allerdings als Formsache.

Ungarns Justizministerin Judit Varga
Reuters/Krisztina Than
Ungarns Justizministerin Judit Varga ortet eine „politische und ideologische Erpressung“ ihres Landes

„Veto oder Tod“, „inakzeptable Erpressung“

Betroffene Mitglieder können sich auch wehren: Fühlt sich ein Land zu Unrecht Mittelkürzungen ausgesetzt, kann es das Thema auf die Tagesordnung eines Treffens der EU-Staats- und -Regierungschefs setzen. In einer ersten Reaktion kritisierte der polnische stellvertretende Minister für Staatsvermögen, Janusz Kowalski, den Kompromiss auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. „Veto oder Tod“, schrieb er mit Verweis auf die polnische Souveränität und sprach von „undemokratischen und ideologischen Ambitionen der Eurokraten“.

In einer ersten Reaktion wies auch die ungarische Regierung den Beschluss als „inakzeptable Erpressung“ zurück. „Es ist inakzeptabel, dass das europäische Parlament trotz der derzeitigen Pandemie und der ernsten Herausforderungen für die europäische Wirtschaft seine politische und ideologische Erpressung gegenüber Ungarn fortsetzt“, schrieb die ungarische Justizministerin Varga auf Facebook.

„Kuschelkurs mit Orban und Kaczynski beendet“

Die für die Mehrheit der EU-Regierungen sprechende deutsche EU-Ratspräsidentschaft verteidigte das Vorgehen. „Der neue Konditionalitätsmechanismus wird den Schutz des EU-Haushalts stärken, wenn Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu einem Missbrauch von EU-Mitteln führen“, sagte Botschafter Michael Clauß. Nun gelte es, auch die Verhandlungen über den langfristigen EU-Haushalt und das CoV-Konjunkturpaket schnell abzuschließen.

PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski
Reuters/Agencja Gazeta
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski könnte jetzt gegenüber der EU auf Blockade setzen – etwa beim geplanten CoV-Konjunkturprogramm

Vor allem dem mächtigen Chef der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS, Kaczynski, und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban wurde zuletzt immer wieder vorgeworfen, ihren Einfluss auf die Justiz in unzulässiger Weise auszubauen. „Der Kuschelkurs mit Orban und Kaczynski ist beendet“, sagte der deutsche Politiker Moritz Körner als Chefverhandler der liberalen Fraktion für das Dossier.

Einigung birgt politischen Sprengstoff

Gerade deswegen birgt die Einigung allerdings auch politischen Sprengstoff. Die Regierungen in Ungarn und Polen haben bereits vor Längerem mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen zum Gemeinschaftshaushalt gedroht, sollte der Rechtsstaatsmechanismus wirklich eingeführt werden. Das könnte auch dazu führen, dass das geplante CoV-Konjunkturprogramm der EU nicht starten kann.

Ein Grund für das jetzt vereinbarte Vorgehen ist, dass sich andere Verfahren als wirkungslos erwiesen haben. So laufen gegen Polen und Ungarn bereits Artikel-7-Verfahren der EU, die theoretisch sogar mit einem Entzug von EU-Stimmrechten enden könnten. Sie sind aber wegen großer Abstimmungshürden blockiert. Folge ist, dass Warschau und Budapest bisher kaum etwas unternommen haben, um aus Sicht anderer EU-Staaten gefährliche Entwicklungen im Bereich der Justiz und der Meinungsfreiheit zu stoppen.

Hahn: „Kann effektiv sein“

EU-Budgetkommissar Johannes Hahn begrüßte den Beschluss eines neuen Mechanismus. „Ich glaube, dass dieses Instrument effektiv sein kann“, sagte Hahn in einer ersten Reaktion. Die Einigung werde auch sicher eine weitere Dynamik auslösen, so Hahn. Er erwartet bereits Anfang nächste Woche einen Deal über den gesamten EU-Finanzrahmen. Der rund eine Billion Euro schwere Finanzrahmen von 2021 bis 2027 ist noch Gegenstand von Verhandlungen zwischen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, dem Europaparlament und der EU-Kommission.

Vereinbart worden sei eine offene, erweiterbare Liste von auslösenden Faktoren. Als Beispiele nannte er Verstöße gegen die Unabhängigkeit der Justiz und ungesetzliche Entscheidungen von Behörden. Außerdem müsse die EU innerhalb von sechs Monaten über rechtsstaatliche Verstöße im Zusammenhang mit dem EU-Budget entscheiden. Der Rat der EU-Staaten könne das Dossier „nicht abliegen lassen“. Hahn sieht auch eine „präventive Natur“ des Mechanismus.

„Frugale“ stolz

Die Minister der „frugalen“ EU-Länder Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland haben die Einigung auf den Mechanismus begrüßt. „Das ist etwas, was wir als die vier Frugalen und Finnland erreicht haben. Wir wollen, dass mit dem Geld der Steuerzahler sorgsam umgegangen wird“, sagte Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Man müsse sich die Details des Kompromisses der EU-Institutionen noch anschauen, sagte Edtstadler.

Doch sei dieser Mechanismus ein Ergebnis der guten Zusammenarbeit der fünf „frugalen“ Länder. „Wir können stolz darauf sein“, so Edtstadler. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte seien zentrale Werte dieser Zusammenarbeit. Auch der niederländische Außenminister Stef Blok und die finnische Europaministerin Tytti Tuppurainen äußerten sich ähnlich.

Österreichs EU-Abgeordnete begrüßen Einigung

Auch die österreichischen EU-Abgeordneten begrüßten die Einigung – mit Ausnahme der FPÖ. „Mit dieser Einigung fordern wir das Commitment zu unseren europäischen Werten und Freiheiten ein“, twitterte ÖVP-EU-Delegationsleiterin Angelika Winzig unter Verweis auf den Einsatz der Europäischen Volkspartei (EVP). „Wer von unseren gemeinsamen Anstrengungen profitieren will, der muss Rechtsstaatlichkeit respektieren und einhalten.“

SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath zufolge ist es „der Beharrlichkeit des EU-Parlaments zu verdanken, dass es zum ersten Mal finanzielle Konsequenzen hat, wenn ein Mitgliedsland rechtsstaatliche Prinzipien missachtet“. Das EU-Parlament habe den „schwammigen Ratsvorschlag an entscheidender Stelle verbessern können“. Dennoch hätte man sich „einen umfassenderen Zugang gewünscht“. „Wer sich nicht an Regeln hält, dem soll auch schnell der Geldhahn zugedreht werden“, so Vollath.

Für die EU-Delegationsleiterin der Grünen, Monika Vana, sind EU-Geldstrafen bei Rechtsstaatsverstößen der Mitgliedsstaaten „Gebot der Stunde“. Auch NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon zeigte sich erfreut: „Endlich gibt es eine Möglichkeit, der Verwendung von Geldern der europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für illiberale Politik ein Ende zu bereiten.“ Die Union dürfte sich „nicht länger von Figuren wie Orban und Kaczynski unter Druck setzen lassen“, so Gamon.

FPÖ sieht „falschen Ansatz“

Die FPÖ-EU-Delegation empfindet die Einigung hingegen als „falschen Ansatz, da dieses Instrument ein reines Politikum darstellt, welches missliebige Länder bestrafen soll, falls diese nicht nach der Pfeife aus Brüssel tanzen“. „Gerade Länder wie Ungarn oder Polen, die sich immer gegen die fatalen Migrationspläne der EU gestellt haben, wie zum Beispiel den Verteilungsmechanismus, werden ins Visier genommen“, so FPÖ-EU-Delegationsleiter Harald Vilimsky. Die „Spaltung innerhalb der EU“ werde durch den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus verstärkt.