US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden und Vize-Kandidatin Kamala Harris
Reuters/Kevin Lamarque
Rede angekündigt

Biden baut entscheidenden Vorsprung aus

Der Nervenkrieg um die letzten Ergebnisse aus einigen US-Bundesstaaten hält weiter an. Doch der Vorsprung des Demokraten Joe Biden gegenüber Amtsinhaber Donald Trump ist zuletzt deutlich gewachsen, auch im Schlüsselstaat Pennsylvania. Sowohl Biden als auch seine Vize-Kandidatin Kamala Harris wollen sich bald an die Öffentlichkeit wenden.

Der 77-jährige Biden will am Abend (Ortszeit) in seinem Heimatort Wilmington im Bundesstaat Delaware eine Rede halten, hieß es aus dem Wahlkampfteam. Der „Guardian“ berichtete, dass sich auch Bidens Vize-Kandidatin Harris am Abend an die Bevölkerung richten wird. Ob das Vorboten sind oder neuerliche Durchhalteparolen, wird sich weisen.

Die Auszählungen in mehreren wichtigen Bundesstaaten war am Freitagabend (MEZ) noch in vollem Gang, der Wahlsieger noch offen. Bidens Vorsprung war zuletzt deutlich gewachsen, in Pennsylvania lag Biden laut den Sendern CNN und Fox News bei der Auszählung der Wahlzettel inzwischen mit rund 14.000 Stimmen vor Trump. Sollte Biden den Bundesstaat mit seinen 20 Wahlleuten tatsächlich gewinnen, wäre er auch mit einem Schlag Gesamtsieger der Präsidentschaftswahl. Selbst wenn Trump alle anderen ausstehenden Bundesstaaten für sich entscheiden könnte, würde der bisherige Präsident nicht auf die nötigen 270 Wahlleute kommen.

Trumps Republikaner zogen im Streit um Pennsylvanias Briefwahlstimmen nun erneut vor den Obersten Gerichtshof. Sie riefen den Supreme Court in Washington am Freitag auf, per Eilanordnung eine Zählung von nach dem Wahltag eingegangenen Briefwahlzetteln zu untersagen. Diese Wahlzettel müssten von den anderen abgesondert werden und dürften nicht ausgezählt werden. Pennsylvania hatte wegen der Pandemie eine Ausweitung der Briefwahl beschlossen. Demzufolge werden alle Stimmzettel angenommen, die bis zu drei Tage nach dem Wahltag beim Wahlleiter eintreffen, sofern sie den Poststempel vom 3. November tragen. Die Frist läuft damit am Freitag aus. Die Republikaner hatten schon vor der Wahl versucht, diese Fristverlängerung vom Supreme Court kassieren zu lassen.

Trump in North Carolina voran

Schon zuvor hatte Biden am Freitag im lange tiefroten Georgia hauchdünn die Führung übernommen und später ausgebaut. Dennoch könnte der Abstand in Georgia am Ende so knapp ausfallen, dass die zuständigen Behörden bereits mit einer Neuauszählung rechnen. Beide Kandidaten könnten das beantragen, sobald ein bestätigtes Ergebnis mit einem Abstand von höchstens 0,5 Prozentpunkten vorliege, sagte der Vertreter der Wahlbehörde, Gabriel Sterling, am Freitag in Atlanta. Wegen hoher Anforderungen an die Prüfung der Wahlzettel und Auszählung werde das Ergebnis voraussichtlich zum Wochenende vorgelegt werden können, sagte Sterling. Bei einer Neuauszählung müsse jede Stimme neu eingescannt werden, was bis Ende November dauern könne.

Auch in den Schlüsselstaaten Arizona und Nevada stand das Ergebnis noch aus, allerdings lag auch dort Biden vorne. In North Carolina hatte dagegen Trump einen Vorsprung von rund 1,4 Prozent. Dort sind 15 Wahlleutestimmen zu holen. Trumps Wahlkampfteam warnte davor, den Demokraten bereits jetzt zum Wahlsieger auszurufen – was bisher kein großer US-Sender getan hat. „Diese Wahl ist nicht vorbei“, sagte Wahlkampfanwalt Matt Morgan.

Trump schürt weiter Zweifel

Trump zog am Freitag erneut mehrmals die Korrektheit der Stimmauszählung infrage und warf den Demokraten Wahlbetrug vor. Es würden „illegale Stimmen“ gezählt. Von Anfang an habe er gesagt, dass nur „legale Stimmen“ für das Ergebnis berücksichtigt werden dürften. „Aber wir sind bei diesem grundlegenden Prinzip auf Widerstand vonseiten der Demokraten gestoßen“, so Trump in einer schriftlichen Mitteilung. Seit der Wahlnacht hatte er mehrfach behauptet, es gebe Wahlbetrug, ohne Beweise dafür zu nennen.

Wahlkrimi in den USA

Joe Biden hat einen Vorsprung, doch noch immer ist in den USA kein Wahlsieger verkündet worden.

Trump bekräftigte auch, alle rechtlichen Mittel nutzen zu wollen. „Es wird eine Menge Klagen geben. Wir können nicht zulassen, dass eine Wahl auf diese Weise gestohlen wird.“ Trumps Team hatte bereits in einigen Bundesstaaten Klagen gegen die Stimmauszählung eingereicht. In Michigan und Georgia wurden diese Beschwerden abgewiesen. Georgia erwartet allerdings, dass es aufgrund des hauchdünnen Abstandes im Nachhinein zu einer Neuauszählung kommen werde.

TV-Sender stoppen Übertragung

In einem in der Nacht auf Donnerstag bekanntgewordenen Brief forderten Anwälte von Trumps Wahlkampfteam Justizminister William Barr zu Ermittlungen auf. Sie behaupteten, sie hätten in Nevada 3.062 Personen festgestellt, die unrechtmäßig ihre Stimme in dem Bundesstaat abgegeben hätten.

Grafik zeigt Siegszenarien für Biden und Trump
Grafik: ORF.at; Fotos: AP/White House, AP/Andrew Harnik

Trump hat keine Beweise für seine Behauptungen vorgelegt, dass es schweren Wahlbetrug gegeben habe. Außerdem gab es keine Anhaltspunkte dafür: Die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben eigenen Aussagen zufolge „keinerlei Hinweise auf systemische Probleme finden können“.

Die großen US-Sender ABC, NBC und CBS taten dann auch tatsächlich etwas, was viele Medienkritiker in den USA seit Jahren forderten, doch kaum ein TV-Sender getan hat: Nach mehreren Lügen und falschen Behauptungen Trumps beendeten sie vorzeitig die Liveübertragung, während Trump noch redete.

Scharfe Kritik auch aus eigenen Reihen

Trump musste sich auch scharfe Kritik von Mitgliedern seiner Partei für sein Vorgehen gefallen lassen. „Es gibt keine Rechtfertigung für die Äußerungen des Präsidenten heute Abend, die unseren demokratischen Prozess untergraben“, schrieb der republikanische Gouverneur von Maryland, Larry Hogan, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Eine Wahlmitarbeiterin in Maricopa County (Phoenix, Arizona).
Reuters/Jim Urquhart
Auszählung in Arizona: Auch hier hat Biden die Nase vorn

In einem Interview mit dem Sender PBS warf er Trump und dessen Lager vor, mit Warnungen vor der Briefwahl den Boden für das jetzige Vorgehen – das Anzweifeln der Ergebnisse – bereitet zu haben. Hogan ist der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Gouverneure.

„Das wird langsam verrückt“

Der Kongressabgeordnete Adam Kinzinger forderte, für Betrugsvorwürfe Beweise vorzulegen und sie vor Gericht zu präsentieren. „Hören Sie auf, entlarvte Falschinformationen zu verbreiten … Das wird langsam verrückt“, schrieb er auf Twitter.

Trumps Sohn Donald Trump Jr. reagierte verbittert auf die sich abzeichnende Absetzbewegung, forderte seinen Vater martialisch zum „totalen Krieg“ gegen Wahlbetrug auf und kritisierte das „völlige Fehlen“ von Unterstützung prominenter Republikaner für seinen Vater scharf. Der einflussreiche Vorsitzende des Justizausschusses im US-Senat, Lindsey Graham, stellte sich auf die Seite von Trump und spendete 500.000 Dollar für dessen Anwaltsfonds.

Biden appelliert an Geduld

Biden gab sich am Freitag präsidentiell und rief zu Ruhe und Geduld auf. Die amerikanische Bevölkerung werde sich „nicht zum Schweigen bringen lassen, nicht schikanieren lassen und nicht aufgeben. Jede Stimme muss gezählt werden.“

Biden gab sich zuletzt wiederholt siegesgewiss, verzichtete jedoch darauf, sich bereits als Sieger der Präsidentschaftswahl zu bezeichnen. Anders die demokratische Vorsitzende des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi: Sie nannte Biden am Freitag bereits „president-elect“ (Dt.: „gewählter Präsident“) – so wird in den USA der Sieger der Präsidentschaftswahl bis zu seinem Amtsantritt bezeichnet.