Frau bei der Stimmauszählung in Georgia
APA/AFP/Getty Images/Jessica Mcgowan
Biden voran

Im Schneckentempo zum Fotofinish

Obwohl zu erwarten war, dass die Auszählung der Stimmen nach der US-Wahl langwierig sein würde, stellen sich Tage nach dem eigentlichen Wahlgang bei Wahlhelfern, Journalistinnen und Beobachtern Ermüdungserscheinungen ein. Der Demokrat Joe Biden lag auch am Samstag weiterhin in vier von fünf umkämpften Bundesstaaten in Führung vor dem republikanischen Amtsinhaber Donald Trump. Der Auszählungsprozess zog sich aber weiter im Schneckentempo.

Weiterhin stand Biden bei 253 Wahlleuten, Trump bei 213. Viel hat sich in 24 Stunden also nicht getan. Biden baute zwar seinen Vorsprung etwa in Georgia am Samstag weiter aus, eine Entscheidung brachte das aber nicht. Biden lag in Georgia 7.248 Stimmen vor Trump, wie CNN unter Berufung auf Zahlen der Wahlbehörde berichtete. Angesichts des engen Rennens ist in Georgia aber eine Neuauszählung sehr wahrscheinlich. In Pennsylvania lag Biden inzwischen mit 28.833 Stimmen voran. Sein Vorsprung in Nevada stieg auf mehr als 22.657 Stimmen, und in Arizona lag er noch 29.861 Stimmen vor Trump. Die dortige Wahlleiterin Katie Hobbs dämpfte am Freitagabend bei CNN Hoffnungen auf ein rasches Ergebnis. Die Auszählung werde „übers Wochenende“ weitergehen, so Hobbs.

Für Trump sah es dagegen in North Carolina und Alaska gut aus – was ihm allerdings nicht reichen würde. Nach derzeitigem Stand müsste Biden nur noch den Bundesstaat Pennsylvania mit seinen 20 Wahlleuten gewinnen, um sich die für den Sieg nötige Mehrheit von 270 Wahlleuten zu sichern. Die Auszählung zieht sich bei der diesjährigen US-Wahl wegen der hohen Wahlbeteiligung und der CoV-Pandemie hin. Viele Bundesstaaten hatten unter anderem ihre Regeln für die Briefwahl angepasst, um die Wähler nicht einer Infektionsgefahr im Wahlbüro auszusetzen.

Biden gibt sich siegessicher

Biden zeigte sich Freitagnacht (Ortszeit) siegessicher. Es gebe noch keine endgültigen Ergebnisse, aber „wir werden dieses Rennen gewinnen“, sagte Biden. Zusammen mit seiner Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris habe er bisher mehr als 74 Millionen Stimmen bekommen – mehr als jedes andere Wahlteam in der Geschichte des Landes. Biden versprach – ohne den Wahlsieg für sich zu reklamieren –, dass er ein Präsident für alle sein werde. „Wir mögen Gegner sein, aber wir sind keine Feinde. Wir sind Amerikaner.“

Biden hatte sich schon zuvor am Freitag präsidentiell gegeben und zu Ruhe und Geduld aufgerufen. Die amerikanische Bevölkerung werde sich „nicht zum Schweigen bringen lassen, nicht schikanieren lassen und nicht aufgeben. Jede Stimme muss gezählt werden.“

Grafik zeigt Siegszenarien für Biden und Trump
Grafik: ORF.at; Fotos: AP/White House, AP/Andrew Harnik

Trump hatte Biden wenige Stunden vor der Rede per Twitter explizit gewarnt, sich zum Sieger zu erklären. Gleichzeitig deutete er in einem weiteren Tweet erstmals eine Niederlage an. Er habe bei der Präsidentschaftswahl in allen umkämpften Staaten eine „große Führung“ gehabt habe, die dann „auf wundersame Weise verschwunden“ sei. „Vielleicht wird diese Führung wieder zurückkommen, wenn wir unsere rechtlichen Verfahren voranbringen“, so Trump.

„Legale“ und „illegale“ Stimmen

Trump hatte noch am Donnerstagabend in einem bemerkenswerten Presseauftritt im Weißen Haus erklärt, dass er „locker“ gewänne, „wenn man nur die legalen Stimmen zählt“. Seine Aussagen wurden als pauschale Abwertung aller Briefwahlstimmen gewertet, von denen die Anhänger Bidens stark Gebrauch gemacht hatten.

ORF-Reporter Roland Adrowitzer aus Georgia

Roland Adrowitzer berichtet aus Georgia. Der Staat ist einer der entscheidenden für das Endergebnis im ganzen Land.

Trump stellte am Freitag erneut mehrmals die Korrektheit der Stimmauszählung infrage und warf den Demokraten Wahlbetrug vor. Es würden „illegale Stimmen“ gezählt. Von Anfang an habe er gesagt, dass nur „legale Stimmen“ für das Ergebnis berücksichtigt werden dürften. „Aber wir sind bei diesem grundlegenden Prinzip auf Widerstand vonseiten der Demokraten gestoßen“, so Trump in einer schriftlichen Mitteilung. Seit der Wahlnacht hatte er mehrfach behauptet, es gebe Wahlbetrug, ohne Beweise dafür zu nennen.

Langer Rechtsstreit zu erwarten

Trump bekräftigte auch, alle rechtlichen Mittel nutzen zu wollen. „Es wird eine Menge Klagen geben. Wir können nicht zulassen, dass eine Wahl auf diese Weise gestohlen wird.“ Trumps Team hatte bereits in einigen Bundesstaaten Klagen gegen die Stimmauszählung eingereicht. In Michigan und Georgia wurden diese Beschwerden abgewiesen.

Biden zeigt sich siegessicher

Der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat Freitagabend (Ortszeit) in seiner Heimatstadt Wilmington (US-Bundesstaat Deleware) zum aktuellen Stand der Wahl Stellung genommen.

Republikaner rücken ab

Trump musste sich auch scharfe Kritik von Mitgliedern seiner Partei für sein Vorgehen gefallen lassen. „Es gibt keine Rechtfertigung für die Äußerungen des Präsidenten heute Abend, die unseren demokratischen Prozess untergraben“, schrieb der republikanische Gouverneur von Maryland, Larry Hogan, auf Twitter.

In einem Interview mit dem Sender PBS warf er Trump und dessen Lager vor, mit Warnungen vor der Briefwahl den Boden für das jetzige Vorgehen – das Anzweifeln der Ergebnisse – bereitet zu haben. Hogan ist der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Gouverneure.

„Das wird langsam verrückt“

Der Kongressabgeordnete Adam Kinzinger forderte, für Betrugsvorwürfe Beweise vorzulegen und sie vor Gericht zu präsentieren. „Hören Sie auf, entlarvte Falschinformationen zu verbreiten … Das wird langsam verrückt“, schrieb er auf Twitter.

Trumps Sohn Donald Trump Jr. reagierte verbittert auf die sich abzeichnende Absetzbewegung, forderte seinen Vater martialisch zum „totalen Krieg“ gegen Wahlbetrug auf und kritisierte das „völlige Fehlen“ von Unterstützung prominenter Republikaner für seinen Vater scharf. Der einflussreiche Vorsitzende des Justizausschusses im US-Senat, Lindsey Graham, stellte sich auf die Seite Trumps und spendete 500.000 Dollar für dessen Anwaltsfonds.