Der britische Premier Boris Johnson
AP/Matt Dunham
Biden statt Trump

Johnson verliert seinen Brexit-Joker

„Sie nennen ihn den britischen Trump“, hat sich US-Präsident Donald Trump einst bei einem Besuch von Großbritanniens Premier Boris Johnson begeistert gezeigt. Auf den ersten Blick gab es viele Gemeinsamkeiten – und damit Hoffnung auf einen lukrativen Deal zwischen London und Washington, der den Brexit abfedern könnte. Mit Joe Biden im Weißen Haus verliert Johnson nun seinen Joker – das könnte im Poker mit Brüssel schlagend werden.

In etwas über sieben Wochen geht das Jahr zu Ende – und damit endet auch die Übergangsfrist, die momentan noch die meisten Abmachungen zwischen der EU und Großbritannien aufrecht hält. Das ist zumindest der derzeitige Zeitplan, den London und Brüssel verfolgen. Schon im Jänner verließ London die Union, aber erst mit Jahreswechsel werden wohl auch wirklich die Auswirkungen des Brexits zu spüren sein. Sollte in den nächsten Wochen kein gemeinsamer Weg gefunden werden, würde das wohl schwere Einschnitte für Alltag und Wirtschaft bedeuten.

Hört man sich in Brüssel um, so heißt es oft, dass aus London nicht genug Bewegung kommt – und dieser vernommene Stillstand wurde in den letzten Wochen oft auch mit der US-Wahl in Verbindung gebracht. Denn: Wer im Weißen Haus sitzt, hat freilich Auswirkungen auf die Gespräche zwischen Brüssel und London, vor allem die Verhandlungsposition des britischen Premiers wird dadurch beeinflusst.

Johnsons Hoffnung ruht auf USA

Denn bis jetzt schielte Johnson vorzugsweise über den großen Teich und hoffte auf ein Freihandelsabkommen mit den USA während der Präsidentschaft von Trump. Doch die Wahrnehmung, dass die Staatsspitzen auf beiden Seiten des Atlantiks viel miteinander verbindet, schlug sich in den vergangenen Monaten nicht in vorweisbaren Erfolgen nieder. Ein Handelsabkommen gingen die USA mit London nicht ein – trotz Trumps Bewunderung für Johnson und den Brexit an sich.

Der britische Premierminister Boris Johnson und US-Präesident Donald Trump beim G7-Gipfel im August 2019 in Biarritz (Frankreich)
Reuters/Erin Schaff
Bessere Zeiten für Johnson (li.)? Mit US-Präsident Trump soll er ein gutes Verhältnis gepflegt haben

Landwirtschaft als großer Streitpunkt

Dass bis jetzt kein Deal zustande gekommen ist, liegt auch an einem Thema, bei dem sich Großbritannien und die EU überraschend einig sind, nämlich an landwirtschaftlichen Produkten. Großbritannien hatte „eigentlich einige Zeit und musste sich nicht beeilen“, um mit Washington einig zu werden, so der Brexit-Experte Pieter Cleppe im Gespräch mit ORF.at.

„Das zeigt, dass Großbritannien wohl nicht glücklich darüber war, landwirtschaftliche Produkte aus den USA willkommen zu heißen.“ Für die USA sei der landwirtschaftliche Export aber ein wesentliches Kriterium für jeden Handelsdeal – freilich auch mit der EU. Umgekehrt hätte auch der „protektionistische Instinkt“ der USA einen Deal verhindert, so Cleppe. Und: Mit Biden an der Spitze der USA wird es „noch schwieriger, diesen Deal mit den USA abzuschließen“.

Neuer Präsident mit irischen Wurzeln

Denn Biden steht ganz anders zum Brexit als sein Vorgänger: Das fängt schon damit an, dass Biden irische Vorfahren hat. Am Tag nach dem Brexit-Votum, dem 24. Juni 2016, war Biden gerade in der irischen Hauptstadt Dublin und äußerte sich äußerst zurückhaltend über das Ergebnis: „Es ist nicht wie wir uns das gewünscht hätten, aber wir respektieren die Position.“ Nur einen Steinwurf weiter nahm der damalige Präsidentschaftskandidat Trump in Schottland Stellung: Der Brexit sei „ein großartiges Ding. Es wird großartig. Ich finde, es ist ein fantastisches Ding.“

Bidens irische Wurzeln könnten auch für einen anderen Brexit-Aspekt schlagend werden: Denn die neu entfachte Debatte über die Grenze zu Nordirland ist für Biden ein wichtiger Faktor, schon in der Vergangenheit pochte er darauf, dass die Einhaltung des Friedensprozesses wesentlich für einen Deal mit den USA ist. Beim Frieden zwischen Nordirland und Irland, der bereits im ursprünglichen Brexit-Deal der EU mit London festgehalten ist, habe Biden gewichtigen Einfluss, so Cleppe. Diese Frage habe für die US-Demokraten letztlich auch mehr Bedeutung als ein Handelsabkommen, sagt der Experte, und könnte also die Gespräche mit Brüssel mehr oder weniger direkt beeinflussen.

Handelsdeal auf jeden Fall als Ziel

Expertinnen und Experten sind sich relativ einig, dass die USA unter Biden dennoch einen Handelsdeal mit Großbritannien wollen. So sagt etwa Georgie Wright vom britischen Thinktank Institute for Government gegenüber dem „Guardian“, dass die USA es durchaus als Vorteil betrachten würden, ein Abkommen mit London zu haben – praktisch als Türöffner in die EU. „Der Gedanke dahinter ist: ‚Wenn Großbritannien, mit vergleichbaren Standards, unsere Waren akzeptiert, warum nicht auch die EU?‘“, so die Expertin.

Und auch Cleppe sagt im ORF.at-Interview, dass er für einen Deal zwischen Washington und London „optimistisch“ sei, zumindest mehr als für ein Abkommen zwischen der EU und den USA. Die Frage ist also vielleicht weniger, ob Washington überhaupt einen Deal mit London will – sondern eher, wie wichtig dem neuen Präsidenten eine solche Abmachung ist.

Zeit für Deal mit den USA ist auch knapp

Das hängt wohl auch davon ab, wie sich die innenpolitische Lage für Biden gestaltet. Nachdem das Land tief gespalten ist, könnte er sich in erster Linie den Problemen innerhalb der eigenen Grenzen widmen, das würde außenpolitische Anliegen wohl zeitlich nach hinten verschieben. Doch jede Verzögerung könnte Johnson wertvolle Zeit kosten: Momentan, so schreibt das Magazin „Politico“, gibt es in den USA die Möglichkeit, „schnelle“ Handelsdeals zu schließen. Unter den „Trade Promotion Authority“-Regeln muss der Kongress solchen Deals nur zustimmen, ohne detaillierte Informationen dazu einzuholen, so „Politico“.

Der britische Unterhändler David Frost und EU-Unterhändler Michel Barnier in Brüssel im August 2020
Reuters/Yves Herman
Der britische Brexit-Chefverhandler David Frost (li.) und EU-Chefverhandler Michel Barnier sind noch nicht einig

Doch diese Regelung läuft am 1. Juli 2021 aus. Nachdem der US-Kongress 90 Tage im Voraus über ein derartiges Abkommen informiert werden muss, heißt das, dass Johnson und Biden eigentlich nur Zeit bis 1. April bleibt, um sich einig zu werden, sonst steht ein Abkommen vor einem Prozess, der sich langwierig gestalten könnte.

Zwei Uhren ticken für Johnson

Damit ticken für den britischen Premier gleich zwei Uhren – und bei der ersten ist die Zeit kurz davor abzulaufen: Denn gibt es in den kommenden Wochen keine Einigung mit der EU, startet Johnson mit einem harten endgültigen Ausstieg aus der Union in das neue Jahr. Zwar wird hinter den Kulissen in Brüssel immer wieder gesagt, dass ein Deal in Griffweite ist – richtige Bewegung hat es aber bei den großen Baustellen bisher von keiner Seite gegeben.

Was dann genau passiert, ist weiter unklar – es ist aber davon auszugehen, dass alle Beteiligten bald auf weißen Rauch in den eigentlich seit dem Brexit-Votum festgefahrenen Gesprächen hoffen. Eine mögliche Verlängerung der Übergangsphase wurde von Johnson jedenfalls bisher vehement abgelehnt.

Aus den USA kommt unterdessen bereits Bewegung: Schon diese Woche begann Biden damit, ins Ausland zu telefonieren. Seine ersten Gesprächspartner: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Johnson – und der irische Premier Micheal Martin. Die Irland-Frage wird wohl wirklich über die künftige Beziehung zwischen den USA und Großbritannien mitentscheiden.