Mitglieder der Amhara Milizarmee auf einem LKW
Reuters/Tiksa Negeri
Eskalation um Tigray

Offene Rechnungen alter Eliten

Der aktuelle Konflikt in der äthiopischen Region Tigray hat lange Wurzeln. Mit dem Umbau des Staates durch Premier Abiy Ahmed büßte eine bis dahin bestimmende Minderheit große Teile ihrer Macht ein. Die Tigray, die nur sieben Prozent der Bevölkerung stellen, tragen nun ihren Kampf ums politische Überleben aus. Nach Gräuelvorwürfen beider Seiten machten sich bereits Zehntausende auf die Flucht – ein „Pulverfass“, das auch international mit Sorge gesehen wird.

Die Region Tigray liegt im Norden Äthiopiens und ist etwa so groß wie Österreich. Im Rest Äthiopiens leben über 100 Millionen Menschen. Die Tigray übten aber lange Zeit die Kontrolle über die Mehrheit aus: In Gestalt der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) regierten sie als dominante Partei der äthiopischen Koalition über 25 Jahre lang mit. Dass der Einfluss der TPLF in den letzten Jahr dahinschwand, war der starke Motor der neuen Eskalation. Der allzu radikale Ansatz bei der Erneuerung Äthiopiens könnte sich nun rächen.

Als Abiy 2018 die Regierung übernahm, entfernte er viele Funktionäre der alten Garde und gründete eine neue Partei ohne die TPLF. Sie fühlte sich von Anfang an von der Zentralregierung nicht vertreten, auch Autonomiewünsche wurden laut. Abiy, der im Vorjahr den Friedensnobelpreis für die Einigung mit Eritrea erhielt, konnte Äthiopien wirtschaftlich und politisch öffnen. Die ethnischen Unruhen in dem Vielvölkerstaat nahmen aber deutlich zu.

Von Information abgeschnitten

Im Sommer waren zudem Wahlen in Tigray angesetzt, Abiys Zentralregierung hatte sie wegen der Pandemie verschoben. Die regionale Abstimmung wurde dennoch abgehalten, die TPLF gewann. Damit nahmen die schon schwelenden Spannungen mit der TPLF weiter zu. Kürzlich gab Abiy schließlich grünes Licht für die umstrittene militärische Operation. Zwar beteuerte Abiy, er habe die Differenzen mit der TPLF-Führung friedlich lösen wollen. Doch alle Verhandlungen sind trotz internationaler Bemühungen gescheitert.

Frieden mit Eritrea

Äthiopien und das Nachbarland Eritrea schlossen nach dem schweren Grenzkrieg zwischen 1998 und 2000 vor zwei Jahren ein Friedensabkommen. Premier Abiy erhielt dafür 2019 den Friedensnobelpreis. Die Tigray und Eritrea haben immer noch ein gespanntes Verhältnis. Die TPLF sah die Aussöhnung skeptisch. Eritrea steht der TPLF wegen ihrer Rolle im Krieg feindlich gegenüber.

Über die Lage an Ort und Stelle ist aktuell wenig bekannt, Internet- und Telefonverbindungen sind unterbrochen, laut UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind Straßen blockiert und die Stromversorgung gekappt. Bekannt ist, was durch öffentliche Kanäle transportiert wird.

Am Dienstag kündigte Abiy eine finale Militäroffensive an. Eine dreitägige Frist, die den Kräften in Tigray für eine Kapitulation gegeben worden sei, sei abgelaufen, schrieb er auf Facebook. „Die endgültige und wichtige Strafverfolgungsoperation wird in den kommenden Tagen erfolgen.“

Propagandaschlacht im Gange

Zuvor hatte sich der Konflikt bereits auf das Nachbarland Eritrea ausgedehnt, die TPLF hatte sich zu Raketenangriffen auf die Hauptstadt Asmara bekannt. Mehrere Geschoße sollen nahe dem Flughafen einschlagen sein. TPLF-Anführer Debretsion Gebremichael sagte der Nachrichtenagentur AFP zur Begründung der Angriffe, der Flughafen von Asmara werde auch von äthiopischen Soldaten genutzt. Seinen Angaben zufolge starten in Asmara Flugzeuge, um Luftangriffe in Tigray zu fliegen. Damit sei der Flughafen ein „legitimes Ziel“. Die TPLF hatte auch schon Flughäfen in der an Tigray grenzenden Region Amhara eingenommen, die nun davorsteht, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Inzwischen haben sich nach Angaben örtlicher Sicherheitskräfte bereits Tausende Milizen aus Amhara nach Tigray begeben, um an der Seite der äthiopischen Regierungstruppen zu kämpfen.

Der Konflikt ist auch eine Propagandaschlacht um öffentliche und internationale Meinung. Beide Streitparteien bezichtigen sich gegenseitig verschiedener Gräueltaten. Premier Abiy twitterte kürzlich etwa, in Tigray seien Soldaten hingerichtet worden. Amnesty International berichtete tatsächlich von einem Massaker, dem aber hauptsächlich Zivilisten zum Opfer gefallen seien. Wer es verübt hat, ist nicht bestätigt.

Zudem gab es in Äthiopien zahlreiche Verhaftungen, mehr als 200 „Agenten“ der TPLF seien festgenommen worden, hieß es. Die TPLF hingegen sprach ebenfalls von einem Massaker und forderte die UNO und die Afrikanische Union (AU) auf, Abiys Regierung für den Einsatz von Hightech-Waffen wie Drohnen zu verurteilen. Bei den Luftschlägen seien in Tigray auch Infrastruktureinrichtungen wie der Tekeze-Staudamm und eine Zuckerfabrik zerstört worden. „Abiy Ahmed führt diesen Krieg gegen die Menschen in Tigray und ist verantwortlich dafür, dass Menschen gezielt Leid zugefügt wird“, so Rebellenchef Gebremichael.

Flüchtlinge in Äthiopien
APA/AFP/Ebrahim Hamid
Zehntausende sind auf der Flucht, die Stabilität der ganzen Region steht auf dem Spiel

Zehntausende auf der Flucht

Leidtragend ist freilich die Bevölkerung. Es gibt bereits Hunderte Todesopfer, mindestens 25.000 Menschen flohen in den Sudan. Die UNO arbeitet nun daran, Lager zu errichten – „aus Sicherheitsgründen“ weit entfernt von der äthiopischen Grenze. Die Lage ist auch deshalb prekär, weil nach UNO-Angaben ohnehin rund 200.000 Binnen- und andere Flüchtlinge in Tigray leben. Zudem gibt es laut der Welthungerhilfe in der Region mindestens 600.000 chronisch mangelernährte Menschen. Diese seien wie die restliche Bevölkerung nun für Helfer nicht erreichbar, Nachschubwege sind gesperrt. Man könne nur mutmaßen, wo die schweren Kämpfe stattfänden und wo Hilfskorridore eingerichtet werden könnten, so der Landesdirektor der Welthungerhilfe in Äthiopien, Matthias Späth, gegenüber der dpa. Eine humanitäre Katastrophe drohe, man gehe „vom Schlimmsten aus.“

Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed
Reuters/Tiksa Negeri
Nobelpreisträger Abiy Ahmed

Als „hochexplosiv“ bezeichnet der Afrika-Experte Friedbert Ottacher im Gespräch mit ORF.at die Situation auch deshalb, weil Tigray schwer aufgerüstet ist. Die Region im Norden Äthiopiens wurde im Zuge des Kriegs mit Eritrea Standort für große Teile der militärischen Ausrüstung des Landes, so Ottacher, der an Ort und Stelle Projekte der NGO Horizont3000 betreut.

Experte befürchtet Dominoeffekt

Die Entwicklung Äthiopiens sei aus westlicher Sicht in den vergangenen Jahren erfreulich gewesen, doch habe man sich Fortschritte und Stabilität auch „schöngeredet“. Tatsächlich habe Abiy große Schritte gesetzt, etwa politische Gefangene befreit und mit neuen NGO-Gesetzen die Meinungsfreiheit nach 30 Jahren harter Diktatur gefördert. „Man hat aber auch einen Geist aus der Flasche gelassen“, so Ottacher. Einerseits habe die Entmachtung der Tigray zu Gegenreaktionen geführt, andererseits hätten sich Provokationen verschiedener Akteure in den tief verwurzelten Konflikten nun schnell hochgeschaukelt. „Die Unzufriedenheit war schnell wieder da, es ist auch schnell Unruhe gestiftet in einem Land, dessen Bevölkerung fast zur Hälfte unter 15 Jahre alt ist.“

Österreich und Äthiopien

Bereits seit 1993 ist Äthiopien Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Die NGO Horizont3000 unterstützt seit 20 Jahren Projektpartner an Ort und Stelle.

Die Gefahr des Bürgerkriegs im „Pulverfass“ Tigray sei sehr groß, so Ottacher, und damit auch das Potenzial zur Destabilisierung der gesamten Region. Die Erfolge der Vergangenheit stünden auf dem Spiel. Abiy handle sehr entschlossen und verweigere Verhandlungen. „Vielleicht will er ein Exempel statuieren“, sagt Ottacher, die Sorge vor einem Dominoeffekt in weiteren Regionen sei begründet. Immer wieder gebe es Autonomiebestrebungen in Teilen des Landes. Abiys größte Sorge sei, „dass der Staat auseinanderbricht“. Das wäre ein schwerer Schlag für die ganze Region mit ihren vielen tausend Menschen auf der Flucht. Etliche Terrormilizen, etwa al-Schabab, könnten sich die instabile Lage zunutze machen.

Die Prognose ist ambivalent. Es gibt Friedensinitiativen, etwa der AU, die ihren Sitz in Addis Abeba hat. Die AU baue Druck auf, so Ottacher, um den Konflikt zu befrieden. „Einen negativen Ausblick will ich mir gar nicht vorstellen“.