Schlafende Neugeborene
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Babyboom oder Babybaisse

Pandemie mit Folgen für Geburtenzahlen

Im März ist Österreich in den ersten Lockdown gegangen. Oftmals wurde spekuliert, ob sich Ausgangsbeschränkungen und Homeoffice etwa neun Monate später auf die Geburtenzahl im Land auswirken würden. Sollten damals mehr Kinder gezeugt worden sein als üblich, müsste sich das rund um den anstehenden Jahreswechsel niederschlagen. In dieser Frage zeichnet sich ein klares Jein ab.

Mehr Zeit zu Hause, mehr Zeit zu zweit – und neun Monate später auch mehr Babys? So einfach scheint die Rechnung dann doch nicht zu sein. Die im Frühjahr verbreitete Annahme, der Lockdown werde zu einem Babyboom führen, ist zwar möglich, es kommt aber darauf an, wo und wann.

Aktuelle Geburtenzahlen gibt es derzeit noch nicht, stehen die Geburten der mutmaßlichen „Lockdown-Babys“, „Coronials“ bzw. „Pandennials“ doch erst an. Expertinnen und Experten gehen aber klar davon aus, dass es in ärmeren Ländern demnächst zu einem deutlichen Plus bei der Geburtenzahl kommt. Dabei handelt es sich allerdings um einen ungewollten Boom, denn durch Lockdowns und andere Maßnahmen seien die Möglichkeiten, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden, stark beeinträchtigt worden. So hätten es etwa Frauen und Mädchen schwerer gehabt, an Verhütungsmittel zu kommen. Auch sexuelle Gewalt und Eheschließungen aus finanziellem Druck spielten ebenso eine Rolle. Vielerorts sei das Geld für Schwangerschaftsabbrüche zudem noch knapper als in normalen Zeiten.

„Wir wissen, dass die Hälfte aller Schwangerschaften ungewollt ist“, zitierte kürzlich die dpa Sophie Hodder, die Leiterin von Marie Stopes in Kenia. Die Organisation bietet Beratung, Gesundheitsversorgung nach Abtreibungen und Schwangerschaftsbetreuung an. „Unsere Prognose ist, dass diese zunehmen.“ Doch eine noch größere Sorge ist, was das für die Frauen bedeutet. In sechs bis zwölf Monaten werde man sehen, wie viele Mädchen und Frauen durch unsichere Abtreibungen ums Leben gekommen seien, so Hodder.

Pendelausschlag in beide Richtungen

Auch in Österreich gibt es noch keine verfügbaren Zahlen zu Schwangerschaften bisher in diesem Jahr. Die Zahlen zum Mutter-Kind-Pass würden elektronisch nicht erfasst, die Zahl der Kinder erst nach der Geburt, so das Sozialministerium auf Anfrage. Im Vorjahr wurden laut Statistik Austria 84.952 Kinder geboren.

In reicheren Ländern wie Österreich, Deutschland und den USA beschert die Unsicherheit der Pandemie andere Probleme. Hier haben die Frauen vergleichsweise mehr Kontrolle über die Familienplanung. In Industrieländern könnte sich aber wohl ein Geburtenrückgang niederschlagen. Martin Bujard vom deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung glaubt, in Deutschland sei beides möglich. „Es gibt mehrere Faktoren, wie sich die Pandemie auf die Geburtenrate auswirken könnte.“ Gesundheitliche Sorgen und ökonomische Ängste könnten dazu führen, dass ein Kinderwunsch verschoben wird. Es sei aber auch denkbar, dass für viele nun der Wert der Familie steigt. „Ich halte es derzeit noch für offen, welcher dieser Mechanismen eine größere Auswirkung haben wird.“

Kinderwunsch kann sich ändern

Barbara Rothmüller, Soziologin und Sexualpädagogin an der Sigmund Freund Universität Wien, forscht zu Veränderungen von Verhütung und Kinderwunsch. Sie stellte Dynamiken fest, die sich durch die Pandemie entwickelten. In der Studie „Liebe, Intimität und Sexualität in der COVID-19 Pandemie“ wurden mehr als 4.700 Menschen befragt. Für 78 Prozent der befragten Personen unter 46 Jahren in einer Partnerschaft veränderte sich durch den Lockdown nichts an ihrer Familienplanung und Verhütung. Rund fünf Prozent aber entwickelten einen neuen Kinderwunsch und planten auch, ihn in der nächsten Zeit zu realisieren. Vier Prozent pausierten oder verschoben einen bestehenden Kinderwunsch, weitere zwei Prozent gaben an, „dass sie in der Pandemie beschlossen haben, dass es nicht vertretbar sei, unter diesen Bedingungen ein Kind in die Welt zu setzen“, so Rothmüller.

Auch für andere westliche Länder gibt es Einschätzungen bezüglich veränderter Familienplanung. Für die USA fand das Guttmacher-Institut, eine NGO und Forschungseinrichtung zu sexueller und reproduktiver Gesundheit, heraus, dass rund 40 Prozent der rund 2.000 Befragten ihre Pläne bezüglich der Familienplanung geändert haben. Manche Prognosen gehen in den USA von einem Geburtenrückgang von bis zu 15 Prozent zwischen November und Februar aus. Laut einer Prognose erreicht Italiens Geburtenrate heuer gar einen historischen Tiefstand. Der Leiter der Statistikbehörde sprach von einer „demografischen Rezession“.

Zukunftssorgen stärker

Sollte es tatsächlich zu einer Veränderung der Zahl an Schwangerschaften kommen, könnte man das frühestens am Jahresende erkennen, so die Gynäkologin Gunda Pristauz-Telsnigg, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) zu ORF.at. Mögliche Ursachen für ein Plus an Geburten könnten etwa mehr Zeit zu Hause sein und weniger Stress.

Die Hebamme Beate Kayer meinte, ein Boom sei jedenfalls ausgeblieben. „Aus meiner Sicht und auch laut den Rückmeldungen meiner Kolleginnen gibt es derzeit nicht mehr Schwangerschaften. Wenn überhaupt, dann weniger.“ Kayer leitet die burgenländische Geschäftsstelle des Österreichischen Hebammengremiums. Sie hat die These, dass einerseits Zukunftssorgen potenzielle Eltern im Moment mehr beschäftigen könnten als ein Kinderwunsch. Zudem sei durch die Lockdowns etwas weggefallen: „Eine Schwangerschaft kommt ja nicht immer nur geplant in einer fixen Beziehung oder Ehe zustande“, so Kayer zu ORF.at. Durch die Ausgangsbeschränkungen könnte es weniger ungeplante Schwangerschaften in Österreich geben.

Gebären in der Pandemie

Auch Kayer kennt die gesundheitlichen Sorgen, die sich werdende Mütter derzeit machen. „Zu dem Thema haben wir ganz viele Anfragen.“ Ob Gefahr für das Kind bestehe, wie man sich schützen könne und wie die Situation bei der Geburt im Spital aussehe, das beschäftige die Frauen sehr. Momentan dürften etwa Partner oder Begleitperson bei der Geburt dabei sein. „Aber die Menschen haben noch die Bilder aus dem Frühjahr im Kopf. Sie sorgen sich, dass sich die Regeln schnell wieder ändern könnten“, so Kayer, „obwohl aus heutiger Sicht kein Grund dafür besteht.“

Sowohl Kayer als auch Pristauz-Telsnigg sagten, die allermeisten Schwangeren mit einer Infektion wiesen nur leichte Symptome auf. Im Fall einer Schwangerschaft sei grundsätzlich das Gleiche zu beachten wie sonst auch: Abstand halten, Maske tragen, Hände waschen. Schwangere gehören nicht zu einer besonders gefährdeten Gruppe. Wichtig sei aber besonders für Schwangere eine Grippeimpfung, so Pristauz-Telsnigg.

Aufwärtstrend erst nach Verschnaufpause

Die Schweiz stellt sich eher auf ein Minus bei den Geburten ein, so ein Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“ („NZZAS“). Es könne aber „auf die Baisse eine Überkompensation folgen“. Derzeit legten die Zahlen verschiedener Schweizer Kliniken und Geburtshäuser nahe, dass der Winter einen Geburtenrückgang bringen werde. So würden in der Geburtsklinik des Lausanner Universitätsspitals zehn Prozent weniger Untersuchungen im letzten Drittel der Schwangerschaft durchgeführt als in den Vorjahren.

Damit folge das Muster in Lausanne einem langjährigen und weltweiten Trend, wurde Klinikchef David Baud zitiert. Nach Gesundheitskrisen wie der Spanischen Grippe habe es in Europa und den USA auch neun bis zehn Monate nach Ausbruch rund 15 Prozent weniger Babys als in den Vorjahren gegeben. Danach sei aber der Anstieg gefolgt, und zwar eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Krise. Der Rückgang sei mit zeitlicher Verzögerung überkompensiert worden, so Baud, „und das nicht nur nach den Krisen des 21. Jahrhunderts, sondern bereits nach der Spanischen Grippe, als es noch keine Verhütungsmittel gab“. Die Menschen holten nach, was sie zuvor aufgeschoben hatten. Ob sich diese Entwicklung auch mit der Coronavirus-Pandemie vergleichen lässt, ist schwer zu sagen. Bleibt das Muster gleich, wäre ein Babyboom in Österreich wohl erst 2022 zu erwarten.