Der britische Chefunterhändler David Frost bei seiner Ankunft in Brüssel
Reuters/Johanna Geron
Ausgang völlig offen

Schwierige letzte Meter im Brexit-Poker

Bei den Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien zeichnet sich kein Durchbruch ab. Die Gespräche am Sonntag in Brüssel hätten noch kein Ergebnis gebracht, sagten Diplomaten beider Seiten am Montag der Nachrichtenagentur Reuters. Weitere Verhandlungsrunden sind angesetzt. Am Abend wollen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson Bilanz ziehen.

Sollte es in den nächsten Tagen nicht doch noch eine Einigung auf die künftigen Beziehungen zueinander samt Freihandelsabkommen geben, droht Anfang 2021 ein harter Bruch mit größeren Verwerfungen für die Wirtschaft. Ein EU-Diplomat sagte, der Ball liege nun im Feld Großbritanniens. Johnson ist einem Bericht der Zeitung „The Sun“ zufolge bereit, den Stecker zu ziehen, sollte die EU nicht noch auf britische Forderungen eingehen.

Der EU-Diplomat ergänzte, es sei bisher nicht gelungen, bei den drei Hauptstreitpunkten Brücken zu bauen – bei den künftigen Fischereirechten, Garantien für einen fairen Wettbewerb und einem Streitschlichtungsmechanismus im Falle von Verstößen gegen das geplante Abkommen. „Der Ausgang ist weiter offen, es kann in beide Richtungen gehen.“ Das Spiel sei jetzt in der finalen Phase. „Die Zeit läuft schnell ab.“

Diplomaten: Barnier pessimistisch

EU-Chefunterhändler Michel Barnier scheint unterdessen nicht mehr an eine Lösung zu glauben. Barnier soll die Botschafter der 27 Mitgliedsstaaten darüber unterrichtet haben, dass es noch keine Einigung gebe, hieß es Montagfrüh. Er habe sich mit Blick auf die Chancen auf eine Einigung eher pessimistisch geäußert, sagte ein ranghoher Diplomat der Nachrichtenagentur Reuters.

EU-Chefunterhändler Michel Barnier
AP/Alberto Pezzali
EU-Chefverhandler Michel Barnier zieht weiter auf Kommissionsseite die Fäden

Barniers Gegenüber, der britische Chefunterhändler David Frost, sagte, beide Seiten arbeiteten „hart daran, einen Deal zu finden“. Doch bei allen drei großen Problemfeldern stehe eine Lösung weiter aus, sagte ein EU-Vertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. Dabei handelt es sich um Fischereirechte, Garantien für einen fairen Wettbewerb und die Regulierung der künftigen Beziehungen. Der irische Premierminister Micheal Martin sagte im Sender RTE, die Verhandlungen seien an einem „sehr schwierigen Wendepunkt“, er forderte die Unterhändler zur „größtmöglichen Kreativität“ auf.

Deutschland, derzeit EU-Ratsvorsitzland, hatte zuvor die Fortsetzung der Gespräche begrüßt. Am Freitagabend sagte Regierungssprecher Steffen Seibert, dass Deutschland ein Abkommen unterstütze, „aber eben auch nicht um jeden Preis“. Vertreter der britischen Regierung wiesen unterdessen Berichte über einen Fortschritt in den Verhandlungen beim Streitthema Fischerei am späten Sonntagabend wieder zurück. „Es hat keinen Durchbruch beim Fisch gegeben. Es ist heute nichts Neues dazu erreicht worden.“

Der britische Chefunterhändler David Frost bei seiner Ankunft in Brüssel
Reuters/Toby Melville
Geht es nach dem britischen Chefunterhändler Frost, arbeiten beide Seiten „hart daran, einen Deal zu finden“

Schallenberg: Geht ans Eingemachte

„Wenn es eine Vereinbarung gibt, werden wir den Text bewerten und analysieren“, sagte Frankreichs Europastaatssekretär Clement Beaune der Sonntagszeitung „Le journal du dimanche“. „Wenn das Abkommen jedoch nicht gut ist und unseren Interessen, insbesondere den Interessen der Fischer, nicht entspricht, könnten wir, Frankreich, wie jeder Mitgliedsstaat, ein Veto einlegen.“

Es gehe „wirklich um das Eingemachte“, sagte ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg im Rahmen des EU-Außenministerrats. Es wäre „wirklich jammerschade“, wenn es zu einem „No Deal“ komme, dennoch werde man nicht um jeden Preis einen Deal eingehen. Die EU brauche Garantien für einen Streitschlichtungsmechanismus, faire Wettbewerbsbedingungen und Klarheit bei der Fischerei. „Jetzt kommt es auf ein politisches Ja aus Großbritannien an“, so Schallenberg, das habe auch Barnier klargemacht.

Auch der irische Außenminister Simon Coveney zeigte sich besorgt: „Die Nachrichten sind sehr düster.“ Barnier habe sehr niedergeschlagen gewirkt und „vorsichtig über die Aussichten auf Fortschritte heute“.

EU fordert längerfristige Perspektive

Geht es nach der britischen Regierung, sollen die Fangquoten künftig jährlich verhandelt werden. Die EU strebt indes eine längerfristige Perspektive für die Fischindustrie an und will zudem für rund 100 Tierarten Quoten festlegen. Schließlich will Großbritannien ein eigenes Abkommen für die Fischerei, während die EU darauf besteht, dass das Themenfeld Teil des gesamten Handelsabkommens wird.

Was den fairen Wettbewerb betrifft, versucht die EU vor allem festzulegen, dass sich Großbritannien auch weiterhin an die Vorgaben des Staatenbundes hält. Die Regierung in London lehnt das ab.

Der dritte Knackpunkt ist die Frage, wie die künftigen Beziehungen reguliert werden sollen. Die EU besteht auf einem robusten Schlichtungsmechanismus einschließlich einer von der britischen Regierung unabhängigen Behörde im Vereinigten Königreich. Großbritannien hält das für übertrieben und strebt ein lockeres Prozedere an, um Handelskonflikte zu lösen.

Zeit für Ratifizierung wird knapp

Großbritannien war am 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende bleibt es aber noch auf dem EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Diese Übergangsphase wollten beide Seiten nutzen, um ein Handelsabkommen für die Zukunft zu schließen. Die Gespräche kommen aber seit Monaten kaum voran. Inzwischen ist die Zeit für eine rechtzeitige Ratifizierung eines Abkommens bis zum 1. Jänner schon äußerst knapp.

Es droht Chaos, sollte es keine Einigung in letzter Minute geben. Expertinnen und Experten rechnen dann mit höheren Zöllen auf viele Produkte sowie langen Wartezeiten an der Grenze. „Auf jeden Fall hat Genauigkeit Vorfahrt gegenüber dem Zeitplan“, so ein EU-Diplomat. In der Vergangenheit waren Fristen immer wieder verschoben worden. Johnson hat aber eine Verlängerung der Übergangszeit mehrfach ausgeschlossen.

Die Investmentbank JPMorgan taxiert das Risiko für einen harten Brexit ohne Handelspakt mittlerweile auf rund 33 Prozent, nachdem es zuletzt nur 20 Prozent waren. Das Pfund fiel zu Wochenbeginn zum Dollar um ein Prozent auf den niedrigsten Stand seit zweieinhalb Wochen.

Binnenmarktgesetz im britischen Parlament

Am Montag wird sich das britische Parlament erneut mit dem umstrittenen Binnenmarktgesetz beschäftigen. Der Entwurf dafür hat die EU in Aufruhr versetzt, weil dadurch potenziell Teile des Brexit-Vertrags untergraben werden. Für Johnson dient es als Sicherheitsnetz, falls die Verhandlungen mit der EU keine abschließende Regelung zum Warenhandel bringen.

Das Gesetz würde London die Möglichkeit geben, die im Brexit-Vertrag festgeschriebene Regelung auszuhebeln, laut der in der britischen Provinz Nordirland auch künftig EU-Zollregeln gelten sollen. Die Europäische Union hat mit juridischen Schritten gedroht. Auch in Johnsons eigener Konservativer Partei ist der Vorstoß umstritten.