Menschen mit Schutzmaske in einem Supermarkt in Wien.
APA/Herbert Neubauer
Pandemieeffekt

Sinkende Inflation, aber höhere Kosten

Die großen wirtschaftlichen Effekte der CoV-Pandemie – Geschäftschließungen, Branchen, die um ihre Existenz kämpfen, und hohe Arbeitslosigkeit – sind nur zu gut bekannt. Daneben gibt es aber auch einen weniger offensichtlichen: Die Inflation gibt derzeit nicht mehr die wahren Lebenskosten wieder. Der Grund: Der Konsum in der Krise hat sich geändert, der Warenkorb zur Inflationsberechnung aber nicht.

Die Pandemie „hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Konsumausgaben der Haushalte“, hält auch die Europäische Statistikbehörde Eurostat aktuell fest. Das Konsumverhalten in „normalen Zeiten ist während und nach den Lockdowns schwer beeinträchtigt worden“. Nun würden die Haushalte ihr Konsumverhalten an die neuen Umstände anpassen. Das gilt auch für Österreich: Der Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO), Josef Baumgartner, bestätigt gegenüber ORF.at, dass die wahren Lebenshaltungskosten heuer pandemiebedingt im Verbraucherpreisindex wohl etwas falsch angezeigt werden.

Baumgartner betonte freilich, dass sich das aktuell nicht einfach quantifizieren lasse. Einen Hinweis geben aber zwei andere regelmäßig erhobene Warenkörbe: Beim Mikrowarenkorb, der den täglichen Bedarf und damit vor allem Nahrungsmittel abbildet, stieg das Preisniveau im Oktober und auch im November im Jahresvergleich um 3,3 Prozent – um zwei Prozentpunkte mehr als die allgemeine Teuerungsrate.

Inflation bei 1,3 Prozent

Während sich die Euro-Zone seit dem Sommer bereits in einer Deflation befindet, ist die heimische Teuerung im Oktober auf 1,3 Prozent im Jahresvergleich gesunken. Im November blieb die Teuerungsrate weiter auf diesem Niveau. Im Jänner – vor der Pandemie – war sie auf zwei Prozent gestiegen.

Ungleiche Betroffenheit

Die Inflationsrate ist generell ein Durchschnittswert. Die tatsächlichen Lebenshaltungskosten eines einzelnen Haushalts können davon – je nach eigenen Bedürfnissen und Interessen – auch in normalen Zeiten deutlich abweichen.

Und die heurige Ungenauigkeit bedeutet auch nicht, dass die Haushaltsausgaben gestiegen sein müssen – in vielen Bereichen, etwa Reisen und Fortgehen, waren sie wohl rückläufig oder fielen weitgehend weg. Zugleich dürften Haushalte mit niedrigen Einkommen von pandemiebedingten Teuerungen stärker betroffen sein, da sich bei ihnen etwa Teuerungen bei Ausgaben des täglichen Bedarfs stärker auswirken.

Beispiel Treibstoff

Besonders im ersten Lockdown sind laut WIFO-Experte Baumgartner die Treibstoffpreise stark gesunken. Es wurde aber auch viel weniger gefahren – im Durchschnitt lag der Anteil der Haushaltsausgaben für Treibstoff sicher deutlich unter dem Wert, der im Warenkorb angenommen wird. Die Folge davon: In der aktuellen Inflationsrate wird laut Baumgartner der „preisdämpfende Effekt überschätzt“.

Umgekehrt sind im Alltag die Ausgaben für Nahrungsmittel sicher höher als im Warenkorb angenommen. Zugleich sind Ausgaben für Gastronomie und Kantinen – die in der Realität deutlich zurückgingen – im Warenkorb deutlich überbewertet. Als einen weiteren großen Bereich, in dem es Verschiebungen gab, nennt Baumgartner den Tourismus. Österreicherinnen und Österreicher verbrächten ihren Sommerurlaub normalerweise überwiegend am Meer, während heuer deutlich mehr Urlaub in Österreich gemacht war.

Baumgartner betont aber, dass der Effekt im ersten Lockdown sicher stärker war als beim zweiten im Herbst. Im Frühjahr habe das „Herunterfahren“ der Wirtschaft deutlich länger gedauert (vier Wochen weitgehend, dann erst schrittweise Öffnung von Geschäften und Dienstleistungen).

Ein Jahr mit Folgen

Für Eurostat und alle nationalen Statistikämter ergibt sich freilich ein Folgeproblem für 2021: Nimmt man die heuer durch die Pandemie und wirtschaftliche Einschränkungen teils stark aus der Reihe gefallenen Werte des privaten Konsums her, könnte das zur verzerrten und uneinheitlichen Warenkorbgewichtung im nächsten Jahr führen. Damit würde die Inflationsrate von der tatsächlichen durchschnittlichen Preisentwicklung abweichen. Zwei Unsicherheitsfaktoren treffen hier aufeinander: die CoV-bedingt ungewöhnlichen Werte für heuer und die Unklarheit, wie die Pandemie nächstes Jahr konkret das Konsumverhalten und die Preisentwicklung beeinflussen wird.

„Außergewöhnliche Situation“

Ingolf Böttcher, bei der Statistik Austria für die Preisstatistik verantwortlich, betont gegenüber ORF.at, dass genau aus diesem Grund zuletzt eine Empfehlung der Eurostat an alle nationalen Statistikämter erging, wie die geltenden Regelungen über die Gewichtung des Warenkorbs für 2021 werden sollen. Der Warenkorb für den EU-weit harmonisierten Verbracherpreisindex (HVPI) wird – das ist per EU-Verordnung festgelegt, um eine einheitliche Berechnung sicherzustellen – jährlich anhand von Daten über den Konsum privater Haushalte des Vorjahres berechnet.

Die Empfehlung gibt insbesondere vor, dass die bis Jahresende vorliegenden Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) aus den ersten drei Quartalen herangezogen werden sollen. Wenn es heuer etwa einen Einbruch bei Pauschalreisen um 80 Prozent gab und diese im Warenkorb zwei Prozent ausmachen, würde das das Gewicht des Werts im Warenkorb 2021 damit auf 0,4 Prozent reduzieren, so Böttcher.

Bei der Gewichtung des Warenkorbs des nationalen Preisindex (VPI) ist man laut Böttcher noch in der Abstimmung. Heuer sei eine „außergewöhnliche Situation“, und man wolle natürlich vermeiden, dass – sollten beispielsweise Pauschalreisen bei starker Nachfrage deutlich teurer werden – sich das im VPI nicht abbildet.

Experte verweist auf Kultur und Gastronomie

Böttcher glaubt freilich, dass sich die Auswirkungen auf die Haushaltsausgaben eher „in Grenzen“ halten werden, da sich die pandemiebedingten Änderungen von stärker und schwächer verteuerten Haushaltsausgaben ungefähr die Waage halten dürften. Auch seien ein Großteil der im Warenkorb enthaltenen Ausgaben Fixkosten wie Wohnen. Von der Pandemie stark betroffene variable Ausgaben wie Reisen, Bewirtung und Kulturdienstleistungen würden maximal ein Viertel ausmachen. Dazu komme, dass Kultur- und Bewirtungsdienstleistungen im heimischen Warenkorb stärker gewichtet sind als in anderen Ländern. Und diese Dienstleistungen seien heuer kaum konsumiert worden.

Improvisierte Rate liegt höher

Die „Financial Times“ war zuletzt in einer eigenen Datenanalyse für die Euro-Zone zum Schluss gekommen, dass die Preise von Produkten, die in der Pandemie besonders nachgefragt sind, deutlich stärker steigen als die monatsweise ins Minuswachstum gefallene allgemeine Teuerungsrate. Die Inflationszahl, die die Politik als Grundlage für ihre Entscheidungen heranziehe, „entspricht nicht ganz dem, wie viele Menschen die Preisveränderungen im Alltag erleben“, so das Finanzblatt. Die Europäische Zentralbank (EZB) berechnete für das Frühjahr exemplarisch eine Inflationsrate unter Berücksichtigung der Pandemieeffekte. Dabei lag sie bis August, dem letzten bisher verfügbaren Datum, je um 0,2 Prozentpunkte über der offiziellen Inflation.

Neues Krisenpaket der EZB

Seit August befindet sich die Euro-Zone in einer Deflation, also einem Preisrückgang. Die EZB rechnet nicht mit einer raschen Trendumkehr. EZB-Präsidentin Christine Lagarde schnürte wegen der mit Wucht einschlagenden zweiten Pandemiewelle voraussichtlich bei der Zinssitzung am Donnerstag ein umfangreiches neues Krisenpaket. Unter anderem wird es 500 Billionen Euro frisches Geld für die Banken geben.