Wie in jedem anderen Genre gilt: Es gibt solche und solche Spiele. Und „Cyberpunk 2077“ vom polnischen Entwicklerstudio CD Projekt Red (CDPR) gehört zur besonderen Gattung. In den letzten Jahren wurde kaum ein Titel so erwartet, verflucht, gehypt und debattiert wie das dystopische Spiel der „The Witcher“-Macher, das neue Maßstäbe in der Branche setzen will.
Denn „Cyberpunk 2077“ verspricht viel. Die Mischung aus Rollen- und Actionspiel im Open-World-Prinzip entführt Spielerinnen und Spieler in eine kaputte und höchstgradig gewalttätige Gesellschaft, in der konkurrierende Konzerne die Welt in Trümmer gelegt haben. Schauplatz ist die von Gangs durchsetzte und trotzdem geschäftige Megalopolis Night City, die gespaltener nicht sein könnte. Es gilt das Recht des Stärkeren – und vor allem des Reicheren. In dieser Stadt dreht sich alles um Geld, Macht und „Cyberware“-Implantate, mit denen sich Menschen zu Superkreaturen tunen lassen.
Mit Keanu Reeves durch die Dystopie
Spielerinnen und Spieler schlüpfen in die Rolle eines Charakters namens V, der sich auf die Suche nach einem Implantat begibt, das Unsterblichkeit verspricht. Diesen manövriert man durch eine Welt voller Aufgaben, in der man sich mit Nah- und Fernkampf sowie schleichend und auch hackend seinen Weg durch die Story bahnen kann. Begleitet wird man dabei unter anderem von illustren Gestalten wie einem Charakter namens Johnny Silverhand, der vom Schauspieler Keanu Reeves verkörpert wird. Das Spiel greift auf das 1988 erschienene, gleichnamige Pen-and-Paper-Rollenspiel zurück, das seinerseits als wichtiger Baustein für das dystopisch-futuristische Genre an sich gilt.
Der Hype im Vorfeld der Veröffentlichung suchte seinesgleichen – nicht zuletzt, weil der Spannungsbogen zu „Cyberpunk 2077“ acht Jahre lang gehalten werden musste. In dieser Zeit wurde der Start allein heuer nicht nur dreimal verschoben, das Spiel wurde auch Gegenstand mehrerer Kontroversen. Unter anderem wurde ihm Transphobie und Übersexualisierung vorgeworfen. Das größte Problem dürften nun, wo es ernst wird, aber die gewaltigen Erwartungen des Publikums werden. Daran sind die Macher nicht ganz unschuldig, denn sie hatten die Latte selbst äußerst hoch gelegt. Doch kann „Cyberpunk 2077“ dem nun standhalten?
Der Realismus macht’s
Weil ORF.at wie vielen anderen Medien erst im letzten Moment Zugang zu Rezensionsexemplaren gewährt wurde und sich Detailtests und Zahlenratings in Branchenmedien finden, kann und soll es an dieser Stelle nur einen ersten und subjektiven Eindruck geben. Und der ist: „Cyberpunk 2077“ dürfte auf lange Sicht und nach Beseitigung der Kinderkrankheiten viel von dem halten, was es so lange versprochen hat.
Von der ersten Minute an packt einen das Spiel und wirft einen kopfüber in die kaputte, neonfarbene Welt von Night City. Schuld daran ist der Umstand, dass es den Machern erneut gelingt, ein enormes Maß an Realismus in den Eskapismus zu bringen – dafür verantwortlich sind vor allem die Charaktere. Die Welt ist in all ihrer Verdorbenheit auf Punkt und Strich durchdesignt und in sich stimmig, kein Kameraschwenk oder Dialog langweilt, die ersten Spielstunden sind ein Fest des Orientierens, Probierens und Sich-überraschen-Lassens. Die Soundkulisse ist eine Klasse für sich.
Viele Details brauchen Power
Wer wirklich großen Wert auf Optik legt, sollte entweder auf einem entsprechend ausgerüsteten PC spielen oder auf das Update für die nächste Konsolengeneration warten. Das Potenzial der aktuellen (angespielt wurde auf der PlayStation 4) wird dem Design der Welt nicht mehr wirklich gerecht. Im Vorfeld war befürchtet worden, dass sich die Entwickler zu viel vorgenommen hatten und letztlich eine hölzerne oder leere Spielwelt die Atmosphäre killt. Das ist nicht der Fall, aber bei den ersten besuchten Open-World-Bereichen gibt es atmosphärisch noch Luft nach oben – auch, was die Interaktion mit der Umwelt anbelangt.
Plattformen
„Cyberpunk 2077“ ist für Windows, Playstation 4 und 5, Xbox One und Xbox Series S/X sowie für Google Stadia erschienen.
Ob und welche Spielelemente sich im Laufe des auf 140 Stunden (inklusive Nebenquests) veranschlagten Spiels als repetitiv erweisen (könnten), kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Ebenso wenig, was Story und Wiederspielwert hergeben. Vor allem im ersteren Punkt geben die Teststreifzüge durch die Spielwelt und das Kennenlernen der Charaktere Zuversicht. Aufschluss können hier freilich nur Langzeittests geben, die bisher mit Vorschusslorbeeren nicht gespart haben. Branchenmedien gaben dem Spiel bisher großteils glänzende Bewertungen.
Bug-Ärger zum Auftakt
Die Reaktionen am Tag der Veröffentlichung waren gemischt, zahlreiche User schienen insbesondere bei den Konsolenversionen mit Bugs und technischen Problemen zu kämpfen. Für die zahlende Kundschaft bedeutet das Ärger, für die Entwickler bedeutet wohl weitere Überstunden: Bereits seit Monaten sorgt das Studio für Negativschlagzeilen, weil es extreme „Crunch-Time“ gegeben haben soll. Darunter versteht man exzessive angeordnete Überstunden rund um die Veröffentlichung eines Spiels, um dieses rechtzeitig veröffentlichen und Bugs beseitigen zu können.
Branchenmedien berichteten von 100-Stunden-Wochen und vollkommen überlastetem Personal. Denn in „Spiel und Spaß“-Branchen wie der Gaming-Industrie wird gerne übersehen, dass es sich – trotz allen Herzblutes – auch um knochenhartes Business handelt. Nicht umsonst beschäftigt die einstige kleine Softwareschmiede CDPR heute 850 Mitarbeiter und gehört zu den 20 stärksten börsennotierten Unternehmen Polens.
Am Limit leben, wo auch immer
Zum Kassenschlager wird „Cyberpunk 2077“ wohl so oder so werden, bereits jetzt knackte das Spiel diverse Allzeitnutzungsrekorde auf der Spieleplattform Steam. CDPR selbst vermeldete acht Millionen Vorbestellungen. An neuen Updates und der Beseitigung der Bugs werde derzeit hart gearbeitet. Ob man nun mit dem Spielen zuwartet oder nicht, letzten Endes zahlt sich die Reise nach Night City aus – gerade jetzt. Denn wenn schon die Realität auf Sparflamme läuft, kann man wenigstens dort am Limit leben.