Ratspräsident Charles Michel
AP/Olivier Matthys
EU-Budgetstreit

Lösung in Griffweite

Am ersten Tag des Gipfels der EU-Staats- und -Regierungschefs in Brüssel ist eine Einigung im Budgetstreit und eine Lösung der Blockade durch Ungarn und Polen in Griffweite. Doch: „Wir sind noch nicht an der Ziellinie“, so Ratspräsident Charles Michel unmittelbar vor dem Gipfel. Dennoch zeigt man sich zuversichtlich, dass der Mittwoch bekanntgewordene „Kompromiss“ die nötige Zustimmung findet.

Michel hält eine Einigung jedenfalls für möglich. „Das wäre ein starkes Signal an den Rest der Welt, aber auch an unsere Bürger“, sagte der Ratschef, der zum ersten Mal nach einer langen coronavirusbedingten Pause wieder die EU-Spitzenpolitikerinnen und -politiker nach Brüssel lud.

Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich optimistisch. „Ich bin froh, dass wir einen Weg nach vorn gefunden haben“, sagte sie vor Gipfelbeginn. Entscheidend sei, dass der Rechtsstaatsmechanismus unverändert bleibe.

Auch die zwei Hauptakteure in dem Streit warben zum Gipfel für den mit der deutschen Ratspräsidentschaft ausgehandelten „Kompromiss“. „Wir sind sehr nahe daran, eine gute Vereinbarung zu erzielen“, sagte der ungarische Premier Viktor Orban. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki forderte die anderen Mitgliedsstaaten auf dem EU-Gipfel auf, den vorliegenden Kompromiss im Budgetstreit anzunehmen.

Kurz will Einigung „sicherlich nicht entgegenstehen“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte, er wolle einer Einigung „sicherlich nicht entgegenstehen“. Es gebe eine „gute Chance“, dass der Streit beigelegt werde, sagte Kurz bei einem Pressegespräch unmittelbar vor Gipfelbeginn. Einen Vorschlag wie jenen der deutschen Ratspräsidentschaft bringe man nur ein, wenn er auch mit den wichtigsten Akteuren abgestimmt sei, so der Kanzler.

Bundeskanzler Sebastian Kurz in Brüssel
AP/Yves Herman
Kurz zeigte sich optimistisch, was eine Einigung anbelangt

Kürzung erst nach EuGH-Urteil

Erst tags zuvor kursierte in EU-Kreisen der Vorschlag, der zwischen Berlin, Warschau und Budapest ausgehandelt wurde. In dem Vorschlag wird etwa konkret darauf hingewiesen, dass die Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit „objektiv, fair, unparteiisch, faktenbasiert“ sein wird. Es werde ein „ordnungsgemäßes Verfahren, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung der Mitgliedsstaaten gewährleisten“, heißt es in dem Dokument.

Die Kürzung oder Streichung von EU-Geldern soll nicht wirksam werden, solange bei einer Klage gegen diese noch kein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vorliegt. Solche Verfahren dauern in der Regel eines bis eineinhalb Jahre.

Merkel will „wichtiges Zeichen“

Entsprechend auf Zustimmung zu dem Kompromiss pochte auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. „Es wäre natürlich ein sehr wichtiges Zeichen auch für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, wenn wir dieses wichtige Ergebnis erzielen könnten“, so Merkel.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte machte jedoch Vorbehalte deutlich. Über eine Prüfung durch den juridischen Dienst der EU solle sichergestellt werden, dass die geplante Zusatzerklärung die Anwendung der neuen Klausel zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen nicht einschränke. Auch das EU-Parlament müsse sich äußern.

Klimaziel als hohe Hürde

Auch im Ringen um ein höheres EU-Klimaziel für 2030 gab es zum Auftakt des Gipfels noch Vorbehalte. Bisher strebt die EU an, ihre Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken. Das soll auf mindestens 55 Prozent hochgeschraubt werden. Einige östliche EU-Staaten sind stark auf Kohle angewiesen und hoffen auf mehr finanzielle Unterstützung für die Energiewende.

Kurz sagte, dass man sich zu den „ambitionierten“ Klimazielen „bekennt“. Er zeigte sich zuversichtlich, dass man sich auf das neue Ziel einigen werde. Gleichzeitig verwies er auf notwendige „Schritte zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit“. Man habe in Europa „Gott sei Dank“ auch „energieintensive Produktion und Industrie“, Kurz verwies hier etwa auf die voestalpine. Wenn anderswo nicht dieselben Kriterien gelten wie in Europa, würde das bedeuten, dass die Industrie abwandert.

Merkel bekräftigte die deutsche Unterstützung für das 55-Prozent-Ziel, räumte aber ein: „Hierzu gibt es noch keinen Beschluss des Europäischen Rates, und das wollen wir während dieser Tagung natürlich auch versuchen.“ Auch der französische Präsident Emmanuel Macron machte sich für das höhere Ziel stark. „Wir müssen unsere Zusagen mit Blick auf 2030 erhöhen. Das wird von Europa erwartet.“ Noch blieben viele Diskussionen zu führen, es sei aber zu hoffen, dass es eine klare und entschiedene Position geben werde.

Coronavirus als erster Punkt auf Tagesordnung

Nach einigen Planänderungen machte den Auftakt am frühen Nachmittag die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie, besonders im Hinblick auf die bevorstehende Impfung. Kurz lobte den „hochprofessionellen“ Prozess, um einen Impfstoff in der EU zu erwerben. Jetzt gehe es um die entsprechende Zulassung – dabei müssten „alle wissenschaftlichen Kriterien“ erfüllt sein. Er hoffe auf eine „rasche und unbürokratische“ Zulassung durch die EMA.

Im Entwurf der Abschlusserklärung heißt es, dass man die bisherige Koordinierung begrüße. Insbesondere bei den möglichen Lockerungen der bisherigen Reisebeschränkungen wolle man zusammenarbeiten – sobald es die gesundheitliche Situation erlaube. Wenn bald Impfstoffe eingesetzt werden könnten, heiße das nicht, „dass die Pandemie vorbei ist“. Die epidemiologische Situation in Europa bleibe besorgniserregend.

Weitere Maßnahmen gegen Türkei in Aussicht

Die schwierigen Beziehungen zur Türkei sollen am Abend besprochen werden. Nach dem Entwurf der Gipfelerklärung dürfte die Türkei trotz der anhaltenden Provokationen vorerst vor harten EU-Sanktionen verschont bleiben. In dem Papier war nach Informationen der dpa nur davon die Rede, dass wegen der Erdgasbohrungen der Türkei vor Zypern „zusätzliche Listungen“ vorgenommen werden sollen. Damit sind Strafmaßnahmen gegen beteiligte Einzelpersonen und Unternehmen gemeint. Sie umfassen EU-Einreiseverbote, Vermögenssperren und das Verbot, mit den Betroffenen Geschäfte zu machen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte die EU unterdessen vor einem Bruch mit der Türkei. Es gebe Differenzen mit der Türkei, die man angehen müsse, sagte Stoltenberg. Gleichzeitig müsse man aber erkennen, welche Bedeutung die Türkei als Teil der NATO und auch als Teil der „westlichen Familie“ habe.

Unklarer Ausgang in Sachen Brexit

Über den Brexit werde unterdessen nur beim Abendessen gesprochen, hieß es aus EU-Kreisen. Erst am Mittwoch trafen der britische Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen – ohne Ergebnis. Nun wolle man bis Sonntag zu einem Abschluss kommen. Kurz sagte, er hoffe, dass man ein „No Deal“-Szenario abwenden könne und es zu einer Einigung kommen werde.