Krankenschwester in Großbritannien
Reuters
CoV-Mutation

Gefahr noch unklar

Eine neue Variante von SARS-CoV-2 sorgt europaweit für Beunruhigung. Viele Länder Europas, darunter auch Österreich, haben Landeverbote für Passagiermaschinen aus Großbritannien verhängt, wo sich die Mutation ausgebreitet hat. Während die Politik von einer „gefährlichen Variante“ spricht, reagieren Fachleute abwartend. Man benötige mehr Daten über die Mutation.

Grundsätzlich sind Veränderungen im Erbgut von Viren normal und vollziehen sich sehr häufig. So habe die Wissenschaft bei SARS-CoV-2 bisher schon rund 300.000 Mutationen nachgewiesen, wie der französische Genforscher Axel Kahn sagte. Mit dem Anstieg der Zahl der Infizierten wachse auch die Wahrscheinlichkeit und die Häufigkeit von zufälligen Mutationen des Coronavirus.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sagte, dass die SARS-CoV-2-Variante VUI-2020/12/01 bis zu 70 Prozent ansteckender sei als die bisher bekannte Form. Seit ihrem ersten Auftreten Mitte September in London und der südöstlichen Grafschaft Kent habe sich diese Variante mittlerweile zur „dominanten“ Form entwickelt, so auch der oberste wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, Patrick Vallance. Verlässliche Studien dazu gibt es allerdings noch nicht.

Drosten nicht beunruhigt

So sei es etwa auch möglich, dass sich die Mutation in Südengland deshalb so stark und schnell ausgebreitet habe, weil dort nur wenige Menschen mit dem ursprünglichen Virus infiziert waren. Das sagte etwa der deutsche Virologe Rolf Kaiser vom Uniklinikum Köln gegenüber dem WDR. Die Verbreitung könne ein Zufall sein, schrieb auch Virologe Christian Drosten auf Twitter. Die Mutationen verschafften dem Virus nicht zwingend einen Selektionsvorteil, auch wenn das möglich sei. Ein Selektionsvorteil kann dazu führen, dass sich ein Virus leichter ausbreiten kann.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte der Virologe am Montag, dass er nicht verharmlosen möchte. „Es lohnt sich, darüber zu reden“, betonte Drosten, er sei aber nicht beunruhigt. „Dieses Virus ist ja jetzt gar nicht so neu. Davon darf man sich jetzt wirklich nicht irgendwie aus der Ruhe bringen lassen.“ Das Virus komme seit Ende September in England vor und sei im Oktober noch überhaupt nicht im Fokus gewesen. „Wir wissen jetzt: Es ist schon in Italien, in Holland, in Belgien, in Dänemark – sogar in Australien. Warum sollte es nicht in Deutschland sein?“

Als Politiker müsse man reagieren – derzeit seien die Reaktionen mit Alarm behaftet. Die Angabe über eine 70-prozentige höhere Ansteckungsrate im Vergleich zur Ursprungsvariante sei aber ein Schätzwert. „Die Zahl ist einfach so genannt worden“, sagte Drosten. Die Datenlage sei noch lückenhaft und wissenschaftlich nicht belastbar. Die britischen Wissenschaftler hätten zudem deutlich gemacht, dass sie mindestens bis Mitte der Woche benötigten, um genaue Aussagen zu treffen.

Bergthaler: „Argument für Strategiewechsel“

Ersten Analysen britischer Wissenschaftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein sitzt auf der Oberfläche des Virus. Der Erreger benötigt es, um in menschliche Zellen einzudringen. Was man derzeit nicht weiß, sei, ob irgendeine dieser Mutationen zu Veränderungen des Virus führt, sagte Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im „Kurier“. Veränderungen könnten die Übertragbarkeit des Virus betreffen und den klinischen Verlauf der Erkrankung.

Bergthaler sagte, er habe den Eindruck, „dass die britischen Politiker diese Virusvariante als Argument für ihren Strategiewechsel zu Weihnachten benützen“: „Denn im Vergleich dazu sind die Reaktionen der Wissenschaftler – auch der britischen – sehr vorsichtig. Man kann nicht ausschließen, dass diese Mutationen ansteckender sind, man hat aber keinen Beweis dafür.“ Seitens des Gesundheitsministeriums hieß es gegenüber ORF.at am Sonntag: „Diese Virusmutation wurde in Österreich bisher nicht nachgewiesen.“

„Wir brauchen mehr Daten“

Gegenüber der „New York Times“ warnten Fachleute vor voreiligen Schlüssen. „Es ist eine Warnung, dass wir genauer aufpassen müssen“, sagte etwa Jesse Bloom, ein Evolutionsbiologe am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle. Man müsse Mutationen beobachten und charakterisieren, um herauszufinden, welche Folgen diese habe. Denn Mutationen, die Viren infektiöser machen, machen sie nicht unbedingt gefährlicher. Nach Angaben von Englands oberstem Amtsarzt Chris Whitty gebe es bisher keinen Hinweis, dass die neue Virusvariante ein höheres Sterberisiko für die Infizierten bedeute.

Analyse von ZIB-Wissenschaftschef Günther Mayr

Wie gefährlich ist die CoV-Mutation in Großbritannien? Günther Mayr, Leiter der ZIB-Wissenschaftsredaktion, antwortet.

Die Aussage, dass die Mutation um bis zu 70 Prozent infektiöser sei als das herkömmliche Virus, basiere auf einer Modellierung und sei nicht in Laborexperimenten bestätigt worden, erinnerte Müge Cevik, Expertin für Infektionskrankheiten in Schottland. „Ich glaube, dass wir ein wenig mehr experimentelle Daten brauchen“, sagte die Forscherin, die auch die britische Regierung berät. „Wir können nicht ganz ausschließen, dass die Übertragbarkeit mit dem menschlichen Verhalten zusammenhängen könnte.“

Bauanleitung für Immunantwort

Theoretisch können Mutationen auch die Wirksamkeit des Impfstoffes beeinflussen – der zielt nämlich genau auf das Spike-Protein. Ändert sich dessen Aufbau, könnte das Immunsystem auch nach einer Impfung blind für den Erreger sein, so die Überlegung. Allerdings erzeuge der derzeit eingesetzte Impfstoff Immunreaktionen gegen das gesamte Protein, das sich auf der Oberfläche des Virus befindet, erläuterte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. „Selbst wenn eine Mutation vorhanden ist, verhindert dies nicht die Erkennung durch das Immunsystem.“

Passanten in der Londoner Regent Street
APA/AFP/Niklas Halle’n
Fußgänger in der Londoner Regent Street – mittlerweile sind strenge Ausgangsbeschränkungen in Kraft

Tatsächlich müssen auch Impfstoffe gegen andere Viruserkrankungen, etwa gegen Grippe, immer wieder an aktuell zirkulierende Virusvarianten angepasst werden. Bei den neuartigen mRNA-Impfstoffen, zu denen der in Großbritannien eingesetzte Coronavirus-Impfstoff gehört, geht das vergleichsweise einfach. Diese Impfstoffe enthalten keine vollständigen Viren, sondern nur eine genetische Information, eine Bauanleitung für ein Virusprotein. Diese Bauanleitung lässt sich relativ schnell an einen neuartigen Erreger anpassen.

„Wir haben tausend große Kanonen auf das Virus gerichtet hat“, sagte Kartik Chandran, Virologe am Albert Einstein College of Medicine in New York, gegenüber der „New York Times“. Um der Immunität zu entkommen, müsse das Virus eine Reihe von Mutationen anhäufen, die es dem Erreger ermöglichen, die Wirksamkeit der körpereigenen Abwehr zu untergraben. „Egal, wie sich das Virus windet und windet, es ist nicht so einfach, eine genetische Lösung zu finden, die wirklich all diese verschiedenen Antikörperspezifitäten bekämpfen kann“, so Kartik.

WHO fordert striktere CoV-Maßnahmen in Europa

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte am Sonntag mit, abgesehen von den Fällen in England sei die Virusvariante neunmal in Dänemark sowie jeweils einmal in den Niederlanden und Australien festgestellt worden. Am Sonntagabend wurde auch von einem Fall in Italien, einem Reiserückkehrer aus Großbritannien, berichtet.

Landeverbot für Flüge aus Großbritannien nach Virusmutation

Nach der Entdeckung einer mutierten und womöglich hoch ansteckenden Variante des Coronavirus in Großbritannien verhängte Österreich ein Landeverbot für Flüge aus Großbritannien. Wegen der raschen Verbreitung gilt in London und anderen Gegenden in Südostengland seit Sonntag ein Lockdown, berichtete Eva Pöcksteiner aus London.

Die WHO twitterte in der Nacht auf Sonntag, sie stehe mit Großbritannien in engem Kontakt. Die britischen Behörden würden weiter Informationen und Ergebnisse ihrer Analysen und Studien teilen. „Wir werden die Mitgliedsstaaten und die Öffentlichkeit auf dem Laufenden halten, sobald wir mehr über die Merkmale dieser Virusvariante und deren Auswirkungen erfahren.“

Die WHO riet dazu, weiter alle Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, und diese gegebenenfalls auch zu verschärfen. „In Europa, wo die Übertragung hoch und weit verbreitet ist, müssen die Länder ihre Kontroll- und Vorbeugemaßnahmen verstärken“, sagte eine Sprecherin der WHO Europa am Sonntag.

EU-Spitzen beraten

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, erörterten in einem Telefonat die neue Lage in England. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft berief für Montag ein Notfalltreffen ein. Berlin rufe im Rahmen des Krisenreaktionsmechanismus der Staatengemeinschaft (IPCR) nationale Experten zusammen, wie ein Sprecher mitteilte. Auf der Tagesordnung stehe die Koordination in Bezug auf die neue Virusvariante.

Eine Vielzahl von europäischen Ländern schottet sich gegen die neue Variante in Großbritannien ab: Die Niederlande verhängten aus Angst vor der Ausbreitung der neuen Virusmutation ein Landeverbot für Passagiermaschinen aus dem Vereinigten Königreich. Belgien, Italien, Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Tschechien, Bulgarien, Kroatien, Norwegen, die baltischen Staaten und Österreich folgten dem Beispiel. Als erste Stadt in Asien verbot Hongkong Landungen aus Großbritannien. Wer vor Dienstag aus Großbritannien eingetroffen sei, müsse sich 21 statt bisher 14 Tage in Quarantäne begeben

Wegen der internationalen Maßnahmen und der Mutation berief Großbritanniens Premierminister Johnson für Montag eine Krisensitzung seines Kabinetts ein. Bei dem Treffen werde es um die „Situation bezüglich des internationalen Verkehrs“ – insbesondere des Frachtverkehrs – gehen, sagte ein Regierungssprecher am Montag in London.