Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Werner Kogler
Reuters/Leonhard Foeger
Ein Jahr ÖVP-Grüne

Regieren im Krisenmodus

Mit den Worten „Es ist gelungen, das Beste aus beiden Welten zu vereinen“, hat ÖVP-Chef Sebastian Kurz vor einem Jahr, am 1. Jänner 2020, die Einigung auf eine Koalition aus Volkspartei und Grünen verkündet. Steuerentlastungen und ein Klimaschutzpaket sollten die Herzstücke der türkis-grünen Politik sein. Doch dann kam die Pandemie und änderte alles. Eines gilt als gewiss: Auch wenn man das Coronavirus irgendwann medizinisch in den Griff bekommt, wird es für die Koalition nicht leichter.

Schon am 2. Jänner wurden das Regierungsteam und das Programm mit den Schwerpunkten Steuerentlastungen, den Kampf gegen die illegale Migration, um den „sozialen Frieden aufrechterhalten zu können und unsere österreichische Identität zu wahren“, sowie Klimaschutz vorgestellt. Am 7. Jänner erfolgte die Angelobung.

Doch mit der Umsetzung kam man nicht allzu weit: Denn schon ein paar Wochen nach der Angelobung ereilte die Coronavirus-Pandemie das Land, und statt des Regierungsprogramms standen plötzlich Krisenpläne im Vordergrund. „Das war ein fremdgesteuertes Jahr“, stellte Politikberater Thomas Hofer im APA-Gespräch fest.

„Koste es, was es wolle“

„Als logische Entwicklung haben sich die Prioritäten des Regierungsprogramms teilweise ins Gegenteil verkehrt“, erinnerte Hofer etwa an das Ziel eines ausgeglichenen Budgets. Doch statt des schwarzen Nullers gab Kurz im März eine andere Devise aus: „Unser Zugang ist: Koste es, was es wolle, um österreichische Arbeitsplätze zu retten.“ Auch das Thema Ökologisierung trat in den Hintergrund, auch wenn der Politikexperte Peter Hajek gegenüber der APA meinte, dass etwa Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) ihre Agenda abarbeite. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler bestätigte am Samstag im Ö1-Mittagsjournal, dass er sich das erste Jahr ganz anders vorgestellt hatte.

Entsprechend standen oft auch nicht jene Ministerinnen und Minister im Vordergrund, von denen man es laut dem Regierungsprogramm erwarten hätte können. Das Bild der Regierung in der Öffentlichkeit wurde vielmehr nachhaltig von den Viererpressekonferenzen von Kurz, Kogler, Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) geprägt – und das seit Ausbruch der Pandemie praktisch durchgehend.

Verweis auf weiter gute Umfragewerte

Die mehr als 200 Pressekonferenzen der Regierung könnten schon zu viel gewesen sein, meinte Politologe Peter Filzmaier am Sonntag in der ZIB2. Bei der Frage, ob zu viel kommuniziert wurde, zeigte sich Filzmaier gespalten: Einerseits gebe es immer noch in Teilen der Bevölkerung Informationsdefizite über das Coronavirus, andererseits fühlten sich Menschen von der Informationsflut überfordert, sodass sich dann viele den Themen und den Botschaften ganz verweigerten.

Jahresrückblick mit Politikwissenschaftler Peter Filzmaier

Politikwissenschaftler Peter Filzmaier blickt in der ZIB2 auf ein außergewöhnliches Jahr 2020 zurück.

Auch die Politikexperten tun sich schwer, die Regierungsarbeit – abseits der Pandemiebekämpfung – zu bewerten. Und im Krisenmodus selbst würden die nach wie vor guten Umfragewerte dafür sprechen, dass „man das in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung recht ordentlich gemacht" habe, sagte Hofer, der aber auch darauf verwies, dass die Opposition, allen voran SPÖ und FPÖ, noch immer geschwächt sei.

Man habe in der Krise Führungskompetenz vermitteln könne, meinte OGM-Chef Wolfgang Bachmayer zur APA. Auch wenn es zwischendurch, vor allem im Herbst, Unstimmigkeiten gegeben habe, habe die Regierung insbesondere mit dem zweiten verschärften Lockdown letztlich „Handlungs- und Beschlussfähigkeit demonstriert“, so Bachmayer.

Fischler und Vranitzky zur Bilanz

Unterschiedlich sehen die Performance auch Ex-Kanzler Franz Vranitzky und Ex-Eu-Kommissar Franz Fischler. „Es ist einiges sehr gut gelungen, aber manches weniger gut gelungen. Also, ich glaube nicht, dass man jetzt da in eine Euphorie ausbrechen muss, aber ich halte es auch für völlig falsch, so zu tun, als ob da alles schlecht gewesen wäre", sagt Fischler im ORF-TV-Rückblick „Ein Jahr Türkis-Grün, Politik zwischen Pandemie und Terror“, der am Montag um 21.05 Uhr in ORF2 zu sehen ist. Vranitzky zeigt sich kritischer: „Die Bilanz schaut nicht sehr positiv aus.“ Nach den Erfolgen in der ersten Welle der Pandemie sei dann „offenbar das Steuer den Händen der Regierung entglitten“.

Vranitzky und Fischler zur Regierung

„Ein Jahr Türkis-Grün: Politik zwischen Pandemie und Terror“ von Roland Adrowitzer und Nicole Kampl

Schwächen in der „zweiten Halbzeit“

Nach dem Lob, das die Regierung für die gute Bewältigung der ersten Welle erhalten hatte, wurde spätestens ab dem Sommer, also – um es mit einer Fußballmetapher zu sagen – in der „zweiten Halbzeit“, die Kritik lauter: Die Coronavirus-Ampel als differenziertes regionales Warnsystem konnte die Erwartungen nicht erfüllen, und mit den stark steigenden Infektionszahlen im Herbst musste sich die Regierung immer öfter den Vorwurf anhören, im Sommer nicht genug unternommen zu haben.

Auch die spät veröffentlichten, nicht immer klaren und teilweise später von Verfassungsgerichtshof (VfGH) kassierten Verordnungen sorgten für Kritik. Und im Laufe des Jahres polarisierte sich auch in der Bevölkerung die Einschätzung der Maßnahmen noch mehr, dementsprechend kontrovers wurden einige, etwa die Frage der Schulschließungen, diskutiert. Die Regierung „war extrem gut im Sprint, aber hat dann zu schwächeln begonnen", befand der Meinungsforscher Hajek.

Unterschiedliches Tempo in der Regierung

Auch scheint die Regierungsspitze im Herbst weniger einig als im Frühjahr. Mit der Ankündigung von Massentests preschte etwa Kanzler Kurz vor. Ein mitunter unterschiedliches Tempo räumten auch Kurz und Minister Anschober im ORF-Jahresrückblick auch selbst ein: „Als ich den zweiten Lockdown durchführen wollte, gab es viel Widerstand in anderen Parteien, aber auch in den Bundesländern“, sagte Kurz. Und: “Ich hätte ihn mir früher gewünscht.“

Kurz und Anschober und das Tempo der Regierung

„Ein Jahr Türkis-Grün: Politik zwischen Pandemie und Terror“ von Roland Adrowitzer und Nicole Kampl

Anschober dazu: „Tatsache ist, dass wir oft in dieser Regierungskoalition mit unterschiedlichen Vorschlägen, auch mit einem unterschiedlichem Tempo in Verhandlungen hineingehen.“ Manchmal sei der „Bundeskanzler der, der schnellere Maßnahmen vorbringt und einbringt, manchmal bin es ich oder sind es wir als Grüne“. Entscheidend sei, „dass wir zu gemeinsamen Lösungen kommen“.

Kaum Platz für Zündstoff

Die vor einem Jahr diskutierten unterschiedlichen Standpunkte, die für Zündstoff in der Koalition sorgen könnten, wurden in der Krise eher in den Hintergrund gewischt. Dass die Grünen Menschen aus Lesbos aufnehmen wollen, damit aber am Einspruch der ÖVP scheitern, war fast immer nur eine Randnotiz. Auch dass die Regierung mit dem Abgang der Kulturstaatsekretärin Ulrike Lunacek (Grüne) früh eine Personalrochade vornehmen musste, ist fast wieder vergessen. Die Pandemie habe aber auch den Effekt, dass „Konflikte weniger stark aufgegangen sind, als zu erwarten gewesen wäre“, betonte Hofer.

Finanzielle Krisenbekämpfung birgt Konflikte

Allerdings, glaubt der Experte, wird sich das auch wieder ändern: Ab dem Zeitpunkt, wenn man in der Pandemiebekämpfung Fortschritte erzielt, „werden Konfliktthemen aufpoppen“. Hofer denkt dabei an die Verteilungsfrage, also Vermögenssteuern, wie sie die Grünen gerne hätten, oder überhaupt die ökosoziale Steuerreform, zu der es nächstes Jahr sicher verstärkt Vorstöße der Grünen geben werde.

Auch Fischler verweist im ORF auf die nächste große Herausforderung: „Natürlich werden wir auf jeden Fall einen riesigen ökonomischen Schaden durch die Krise haben.“ Es werde dann sehr darauf ankommen, „ob es uns gelingt mit neuen Methoden, mit neuen Konzepten, mit neuen Programmen den wirtschaftlichen Umschwung zu schaffen“.

TV-Hinweis:

„Ein Jahr Türkis-Grün, Politik zwischen Pandemie und Terror“ ist am Montag um 21.05 Uhr in ORF2 zu sehen – mehr dazu in tv.orf.at.

Und Filzmaier sieht das als große Herausforderung: „Zunächst schlägt man sich in einer Welt, in der man zwangsweise verbunden ist, und das ist die gemeinsame Welt der Pandemiebekämpfung. Längerfristig bin ich schon skeptisch, ob dieses Konzept mit ‚dem Besten aus beiden Welten’ wirklich aufgehen kann.“

In wirtschaftlich guten Zeiten dürfe „jeder in seiner Welt seine Lieblingsprojekte machen“. Doch jetzt sei das Geld für die Bekämpfung der Pandemie und der wirtschaftlichen Folgen zweckgebunden. „Ob das also längerfristig für ÖVP und Grüne funktioniert, das weiß man schlicht und einfach nicht. Irgendwann wird es auch wieder wahlstrategische Interessen geben.“