Hotel Fernblick Portal in St. Corona mit der Botschaft: Alles wird gut
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Coronavirus und die Folgen

Die Suche nach dem Zeitgefühl

„Uhren ohne Zeiger“, das Abstreifen aller Zeitlogiken, gelten im modernen Roman als große Leistung. In der realen Gesellschaft sieht das anders aus. Mit Homeoffice oder Kinderbetreuung daheim gehen Zeitbezüge verloren, kommen Zeitgefühl und Orientierung abhanden. Dass wir überhaupt so etwas wie eine kollektive Zeitwahrnehmung haben und die lineare Zeit mit offenem Ende zum Leitbild für unser Leben wurde, macht der Gesellschaft in Zeiten einer Pandemie zu schaffen. Wir haben verlernt, so scheint es, uns mit der Gegenwart abzufinden.

"Zeit mal Zeit ist Mahlzeit“, rechnete und dichtete der Kabarettist Gerhard Polt in seinem Film „Herr Ober“ und wurde damit zwar nicht nobelpreisverdächtig, wohl aber immerhin zu einem Lyrikvortrag in eine Rundfunkanstalt eingeladen. Tatsächlich ist es ja mit dem kollektiven Zeitgefühl viel komplizierter bestellt, wie Niklas Luhmann nüchterner zu Protokoll brachte. „Die Zeit ist in ihrer vollen Verwirklichung komplexer, als mit einer bloßen Chronologie festgehalten werden kann“, so Luhmann: „Zeit ist vielmehr eine Dimension der Bestimmung von Sinn.“

Wer kann leichter mit Frustrationen umgehen?

Blickt man auf die großen verhaltenspsychologischen Experimente, die man in den USA mit Vorliebe in den 1960er Jahren durchführte, dann zeigen diese, etwa auch der berühmte Marshmellow-Test (1968) des gebürtigen, vor den Nazis geflohenen Wieners Walter Mischel, wie etwa die Orientierung am Hier und Jetzt zum Problem werden kann. Vereinfacht gesagt, demonstrierte der Marshmellow-Test ja, gerade durch späteren Re-Check an denselben Probanden: Wer zeitlich auf Belohnungen warten konnte, hatte eine größere Frustrationstoleranz.

US-Psychologe Walter Mischel am Freitag, 04. Oktober 2012
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Walter Mischel: Konnte mit seiner Familie 1938 fliehen und wurde einer der führenden Psychologen der USA und Leiter des „Marshmellow-Tests“. Hier 2012 in Wien vor der Verleihung des Ludwig-Wittgenstein-Preises an ihn.

„Menschen“, schreibt der Psychologe und Humanbiologe Marc Wittmann, „haben die Fähigkeit, Zeitdauer zu antizipieren und die Beurteilung der zu erwartenden Wartezeit in ihre Entscheidungsfindung miteinzubeziehen“. Was aber tun, wenn sich Wartezeiten ständig ändern, und, wie der Kulturwissenschaftler Johannes Domsich im Gespräch mit ORF.at festhält, die Koordinaten gewohnter Alltäglichkeit, „die meist Koordinaten von Fremdbestimmungen sind“, abhanden kommen? Der Mensch in der Pandemie ist auf seine Gegenwärtigkeit zurückgeworfen. Und mit Blick auf die Entwicklungspsychologie könnte man sich zur These versteigen, dass wir kollektiv in einen kindlichen Zustand zurückkatapultiert wurden. Wer weiß schon, wie das Übermorgen wird?

Die Wochentagsamnesie

Der Lockdown habe bei vielen zu verändertem Zeitempfinden geführt, sagte eine Untersuchung im Dezember. Der Strukturverlust gehe unter anderem mit einer „Wochentagsamnesie“ einher. Mehr dazu in wien.ORF.at.

Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget war sich ja sicher, dass Kinder erst im Alter von sieben bis acht Jahren in der Lage seien, korrekte Zeiturteile zu bilden. Neue Forschungen wollen das in Einzelstudien widerlegt haben; Kinder seien schon früher dazu befähigt, Zeiturteile zu fällen, ließen sich aber leichter von externen Faktoren ablenken; erst ab acht Jahren nähmen diese Ablenkungen ab.

Wartezeit mit zu langen Kosten

Bei Jugendlichen, so schließt Wittmann wieder, sei die Frage des „Wie lange noch?“ überhaupt mit dem Gefühl verbunden, „dass die Zeit einfach zu lange dauert“ – oder anders gesagt: dass „die Wartezeit mit zu langen Kosten verbunden ist, mit der Folge, dass sie potenziell größere, aber zeitverzögerte Belohnungen abwerten“. Dass sich junge Leute schwertun, einen Lockdown abzuwarten, mag also nicht nur mit dem Gefühl in Verbindung gebracht werden, ihnen könne das Virus weniger anhaben – sondern auch damit, dass das Warten nicht zur Stärke in dieser Alterskategorie passt, zumal wenn man sich die Belohnung einfach früher abholen kann.

Woher aber, so könnte man fragen, stammen überhaupt die Probleme, die wir als Gesellschaft mit dem Verstreichen von Zeit haben (nebst dem anthropologischen Umstand, dass wir alle sterblich sind und die Zeit entsprechend gut nutzen wollen – was ja wenn, dann eher für die Ungeduld bei den Älteren in Hinblick auf das Coronavirus spräche). Eine Antwort liegt im Zeitverständnis, das sich mit der frühen Neuzeit ausgeprägt hat.

Das Zeitgefühl der Neuzeit

Zwei Faktoren sind hier entscheidend: einerseits der lineare Zeitbegriff. Und auf der anderen Seite das offene Ende Richtung Zukunft. Ist bis zur Neuzeit ein zyklisches Zeitverständnis vorherrschend, das keine Scheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart braucht, weil das Wissen ohnedies an den klassischen Orten, den Topoi, abgelegt ist, zieht die Renaissance, wie etwa Reinhard Koselleck im Band „Vergangene Zukunft“ zeigt, eine Scheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nach sich. Die Gegenwart bringt das Neue, bringt die Innovation, bringt den Unterschied zur Vergangenheit. Damit erst, schreibt Luhmann, werde die Vergangenheit frei für die Segmentierung in historische Epochen.

„Noch bis ins 16. Jahrhundert war man davon ausgegangen, dass das Alte besser sei als das Neue und dass die Bemühungen der Wiederherstellung des Wissens und Könnens der Alten zu gelten habe“, so Luhmann in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Die Epochenleistung von Renaissance, Protestantismus und Humanismus besteht für Luhmann in der Wertschätzung des Neuen – ein Umstand, der sich auf ein „progressives Gesellschaftsverständnis“ übertragen habe.

Der Fortschritt zielt demnach nicht auf die Wiederherstellung der Welt samt anschließender Erlösung ab, sondern zieht in eine offene Zukunft. Die Konsolidierung der Territorialstaaten nach dem Dreißigjährigen Krieg dränge dabei die „Klage über Unruhe und Instabilität“ zurück, die sich ja an der Begeisterung für das Neue ablesen lässt.

Luhmanns legendärer Zettelkasten
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Ordnungsfanatiker: Luhmanns Zettelkasten zur Sortierung der Grundfragen der Gesellschaft

„Man kann spätestens für das 18. Jahrhundert von einer Gewöhnung an Innovationen ausgehen“, schreibt Luhmann und konstatiert: Fortschritt werde als der Normaltrend einer Gesellschaft gesehen. Durch den Buchdruck würden Zukunftsvisionen in ungeahntem Ausmaß kommunikabel – und die Zukunft verliere ihren „heilsgeschichtlichen Sinn“, weil sich in ihr die Projektionen eines geschichtlichen Prozesses verwirklichten.

Die Gegenwart, so kann man mit Luhmann schließen, wird zum Un-Ort, in diesem zwischen Vergangenheit und Zukunft dahinrasenden Prozess, sie werde zum a-topos und erscheine „als unbeständig, als flüchtig, als nichtig“ und übertrage sich in der „Nichtübereinstimmung von Vergangenem und Zukünftigen“ schließlich auf das Subjekt. Typischster Ausdruck dafür sei das Ich der Romantik, wo man sich einer Situation stelle und sich ihr gleichzeitig entziehe wolle.

Die ungewollte Gegenwart

Im Alltag der Pandemie scheint die Gegenwart von dieser bei Luhmann beschriebenen „romantischen Situation“ gekennzeichnet: Man wird auf eine Gegenwart bezogen, der man sich zugleich entziehen möchte. Für das Warum des Sich-entziehen-Wollens nennt der Kulturwissenschaftler Domsich handfeste Gründe. „Paradoxerweise geht den Menschen genau das Moment der Fremdbestimmung, das ihren Alltag geprägt hat, ab“, so Domsich. Plötzlich werde man auf sich selbst zurückgeworfen und befände sich nun auch als gewohnter Arbeitnehmer in der Situation eines Selbstständigen, der seine Strukturen selbst schaffen müsse.

Johannes Domsich
ORF.at
Experte Domsich: „Menschen leiden in der Pandemie, so paradox das klingen mag, darunter, dass ihnen die Fremdbestimmung abhanden kommt.“

„Zudem“, so Domsich, „fallen unsere Delegationssysteme wie Schule und Kindergarten“ aus. Menschen müssten neben den Aufgaben, die sie mit Betreuung und Bildung übernommen habe, damit zurechtkommen, rund um die Uhr mit der eigenen Familie umzugehen. Wenn dieser Umstand durch fehlende Horizonte in der Pandemiebewältigung ein Mehr an Gegenwart bringe, dann bringe das ein Mehr an Frustrationserfahrung. Man stecke in der eigenen Gegenwart fest. Auch der Biorhythmus, so Domsich, sei ja klar von festen Abfolgen wie Aufstehen, Arbeit, Hausarbeit, Freizeit, Nachtruhe gekennzeichnet: „Dass jetzt viele Leute nicht schlafen können, ist dabei gar kein so großes Wunder.“

Krise und Typus

Gibt es also, um auf die Ausgangsfrage rund um das Marshmellow-Experiment zurückzukommen, einen Typus, der besser geeignet ist, mit der Lockdown-Gegenwart umzugehen? Der Humanbiologe Wittmann will, wie er in seinem Werk „Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens“ schreibt, nicht jene als Gewinner dastehen lassen, die durch Belohungsverzicht größere Frustrationstoleranz haben.

Geschlossenschild auf einem Geschäft
Barbara Gindl / APA / picturedesk.com
Geschlossene Geschäfte und die Frage, welche „Belohungsbilder“ es für die nähere Zukunft geben sollte

Das Bedauern über eine Entscheidung zur Selbstkontrolle, etwa wenn man die Party verpasst habe, halte länger an als das Bedauern jener, die dem Triebimpuls nachgegeben hätten – Letzteres sei schneller überwunden als das Bedauern einer verpassten Chance. „Menschen, die ihren Terminkalender abarbeiten und dominant der Zukunftsperspektive verhaftet sind, in der Gegenwart also nur für ein zukünftiges Ziel arbeiten, verlieren an erlebbaren Momenten“, so Wittmann.

Buchcover von Marc Wittmanns Gefühlte Zeit
C.H. Beck

Buchhinweis

Marc Wittmann, Gefühlte Zeit, Kleine Psychologie des Zeitempfindens, C. H. Beck, 190 Seiten, 12,95 Euro.

Bliebe also für die Lockdown-Gegenwart die Erkenntnis, dass sich beide Gruppen die Tugend der jeweils anderen ausborgen müssten: Die Impulsiven die Frustrationstoleranz bei den Genuss-Aufschiebern; und die Zukunftsorientierten die Kunst, dem Augenblick wieder eine Spur von Hedonismus abzugewinnen. Die gesamte Wissenschaftsgeschichte, erinnert Wittmann, erzähle ja seit Kant und Nietzsche, seit der Theorie Freuds von Über-Ich und Es, die Geschichte einer Zweiteilung zwischen Lustgewinn und zukunftsorientierter Vernunft. Dass diese aber überkommen sei, könnten die Forschungen des portugiesischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio belegen. Wie Damasio etwa in seinem Klassiker „Descartes’ Irrtum“ bemerkt, fällen Menschen ihre Entscheidungen grundsätzlich nach „somatischen Markern“, also Emotionen, die auf gespeicherten Körpererlebnissen im Konnex mit Erfahrungen beruhten.

Jede Entscheidung, ob eine Belohnung aufgeschoben oder doch gleich konsumiert werde, werde auf der Grundlage emotionaler Bewertungen getroffen. Auf der persönlichen Ebene bleibt der Umgang mit der Krise am ehesten dann doch gerade eine Frage persönlicher Sozialisierung und Präferenzen. Wenn der Wert von Handlungsoptionen aber von den Koordinaten von Zeitorientiertheit (Gegenwart oder Zukunft) und Gefühlen bestimmt wird, dann bleibt für den Humanbiologen Wittmann eine Conclusio: „Es erfordert eine größere Anstrengung und Imaginationsfähigkeit, (…) die Vorstellung über die Zukunft konkurrenzfähig zu halten gegenüber den konkret-emotionalen Bedürfnissen der Gegenwart.“

Für die Politik könnte das auf der Grundlage von Zeitempfinden und Verhaltensforschung bedeuten: die Bilder über das Ziel nach Überwindung der Krise deutlich plastischer zu machen.