„Der mit der EU vereinbarte Deal hat ein klaffendes Loch, wo die versprochene Reisefreiheit für Musiker sein sollte. Jeder, der auf einer Musiktournee durch Europa ist, wird nun teure Arbeitsgenehmigungen für viele Länder und einen Berg von Papierkram für seine Ausrüstung benötigen“, heißt es in dem Brief, der in der Zeitung „The Times“ veröffentlicht wurde. Die zusätzlichen Kosten würden viele Künstler in den Ruin treiben, hieß es weiter.
Man fordere von der Regierung nun, dass sie das „tut, was sie gesagt hat, dass sie tun wird“ und die hürdenlose Einreise für britische Künstlerinnen und Künstler in die EU fixiere. „Im Interesse der britischen Fans, die europäische Künstler in Großbritannien sehen wollen“, solle die Vereinbarung „auf Gegenseitigkeit beruhen“.
Brüssel und London schieben einander Schuld zu
Es ist kein ungewohntes Bild, dass sich bei dem Thema nun London und Brüssel gegenseitig die Schuld zuschieben. Anfang der Woche sagte die britische Kulturstaatssekretärin Caroline Dinenage, dass das ursprüngliche Angebot der EU nicht mit dem Versprechen der Regierung vereinbar gewesen wäre, „die Kontrolle über unsere Grenzen zurückzuerlangen“.
Sollte die EU unterdessen die Vorschläge Londons in Betracht ziehen, sei man zu weiteren Gesprächen bereit, so Dinenage. In Brüssel hieß es hingegen, dass die eingebrachten Vorschläge Großbritanniens gar keine Erleichterung für britische Musiker bringen würden – in London bezweifelt man diese Aussage aber. Anders als von einigen Medien berichtet, habe die Staatengemeinschaft ihrerseits kein Angebot über bis zu 90 Tage Visafreiheit vorgelegt, sagte Dinenage der Nachrichtenagentur PA zufolge.
„Musikerpässe“ wohl kein Thema
Überraschend kommen die Hürden für britische Musiker und Bands freilich nicht: Schon länger fordert etwa die Gewerkschaft Musicians’ Union einen „Musikerpass“, der nichts oder nur wenig kosten solle und die Einreise in alle EU-Staaten ermöglichen solle. Im Internet bekam die Aktion breite Unterstützung – der „Guardian“ schreibt, dass die Regierung diesen Plan nicht als Möglichkeit verfolge, obwohl man behaupte, die Interessen der Industrie zu vertreten.
Einnahmenverlust – Gefahr vor allem für Helfer
Bei der Incorporated Society of Musicians (ISM), die den offenen Brief aufgesetzt hat, verweist man auf die große Bedeutung von Touren durch Europa. „Internationales Touren ist für viele Musiker ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebensunterhalts, wobei 44 Prozent der Musiker vor der Pandemie bis zur Hälfte ihres Einkommens in der EU verdienten“, zitiert der „Guardian“ ISM-Chefin Deborah Annetts.
Während große Stars wohl kein größeres Problem haben werden, entsprechende Arbeitsgenehmigungen für die einzelnen EU-Länder aufzutreiben, sieht die Situation für junge Künstlerinnen und Künstler ganz anders aus. Für sie sind Touren schon jetzt oft nicht profitabel, die zusätzlichen Kosten für ein Visum könnten diese zum Verlustgeschäft machen – ganz besonders im Hinblick auf die Coronavirus-Krise, die freilich die gesamte Branche geschwächt hat.
Doch neben den Musikern selbst werden wohl vor allem die Crews enorm leiden. Roadies sowie Licht- und Tontechniker könnten ihre Arbeit „nicht vom Heimstudio aus“ erledigen, sie seien davon abhängig, dass „dass alles groß und international ist“, sagte zuletzt der Musiker Pete Fraser im Interview mit FM4 – mehr dazu in fm4.ORF.at.
Weitere Gesprächsrunden geplant
Auch mit dem endgültigen Ausstieg Großbritanniens aus der EU gibt es noch zahlreiche ungeklärte Themen – das Schicksal der Musikerinnen und Musiker auf beiden Seiten ist nur ein Teil davon. Als Reaktion auf den offenen Brief hieß es am Mittwoch von der britischen Regierung, dass man die Sorgen der Künstler ernst nehme. „Wir stimmen absolut zu, dass Musiker in der Lage sein sollten, in ganz Europa zu arbeiten“, hieß es in einer Erklärung. Der britische Kulturminister Oliver Dowden will noch diese Woche mit Vertretern der Musikindustrie reden.