Grünen-Klubchefin Sigi Maurer und ÖVP-Klubobmann August Wöginger.
APA/Roland Schlager
Koalitionsstreit

Abschiebungen legen Konfliktpotenzial offen

Der Konflikt über die erfolgte Abschiebung dreier Mädchen aus Österreich hat am Freitag an Schärfe zugenommen. Für die Grünen ist das Kapitel nicht geschlossen, sie kritisierten erneut den Koalitionspartner scharf. Die ÖVP bleibt auf Linie, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) unterstrich die Gesetzmäßigkeit der Abschiebungen. Für die Grünen eine „No-win-Situation“, so der Politologe Peter Filzmaier.

Ein Charterflugzeug hatte am Donnerstag mehrere Menschen mit abgelehntem Asylbescheid, darunter minderjährige Mädchen aus Georgien und Armenien, außer Landes gebracht. Die Unterstützung von Mitschülern, Freunden und Prominenten aus Politik und Kunst hatte keine Wirkung auf die Vollstreckung des Abschiebungsbescheids. Die Betroffenen wurden in der Nacht vom Abschiebezentrum in der Wiener Zinnergasse abgeholt, Sitzblockaden von Demonstrierenden waren von der Polizei, mit Hundestaffel dort, aufgelöst worden.

Sozialminister Rudolf Anschober (Grüne), der sich gegen die Abschiebungen ausgesprochen hatte, sagte noch am Mittwoch nach dem Ministerrat – also vor der Vollstreckung – das Innenministerium habe zumindest zugesichert, die Fälle zu prüfen. Es wäre gut, nach menschlichen Lösungen zu suchen. Am Freitag gewann der Koalitionskonflikt darüber weiter an Schärfe. Klubobfrau Sigrid Maurer und Parteivize Stefan Kaineder (beide Grüne) kritisierten Innenminister Karl Nehammer und Klubobmann August Wöginger (beide ÖVP) scharf.

Dass die Mädchen nun von Spezialeinheiten des Nachts aus ihren Betten geholt worden seien, sah Kaineder als unverhältnismäßig und unmenschlich an. Wenn die Gesetzeslage das möglich mache, brauche man einen Modus, wie in solch einem Fall agiert werden könne. Kaineder brachte Härtefallkommissionen ins Spiel, möglichst in den Ländern, die in Fällen wie den aktuellen die Entscheidung über einen Verbleib in Österreich treffen sollen.

Aufruf zu Entschuldigung

Die ÖVP sei hier in der Pflicht. Unverständlich sei, wie die Volkspartei so einen Konflikt mitten in der Pandemie vom Zaun brechen könne. Dass die Grünen als Menschenrechtspartei das nicht hinnehmen könnten, sei der ÖVP wohl klar gewesen. Scharfe Kritik Kaineders gibt es auch daran, dass Wöginger Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach dessen Eintreten für die Kinder auf die Unabhängigkeit der Justiz hingewiesen hatte. Kaineder und Maurer forderten Wöginger auf, sich zu entschuldigen.

Van der Bellen hatte sich am Donnerstag per Video zu Wort gemeldet und nach eigenen Angaben ohne Aktenkenntnis hinterfragt, ob es nicht rechtlichen Spielraum gegeben hätte und die Kinderrechte entsprechend gewürdigt worden seien. In einer Replik wies Wöginger den Bundespräsidenten „höflich“ darauf hin, „die Unabhängigkeit der Justiz zu respektieren“ – und den Höchstgerichten „das in einem Rechtsstaat selbstverständliche und nötige Vertrauen entgegenzubringen“.

Bundesamt schildert Fall im Detail

Die ÖVP beruft sich auf die unabhängige Justiz und betonte, die Außerlandesbringungen der drei Kinder und ihrer Mütter seien nach umfassender Prüfung und negativem Verfahrensabschluss erfolgt. Innenminister Nehammer betonte am Freitag in einer Pressekonferenz die Rechtmäßigkeit erneut. Der Ressortchef verwies auf die Entscheide der unterschiedlichen Instanzen im Fall der georgischen Familie. Laut Nehammer wurde auch noch vor der Außerlandesbringung geprüft, ob dieser etwas entgegenstehe. Die Möglichkeit eines humanitären Aufenthalt sei schon von der ersten Instanz weg geprüft worden.

Der Gesetzmäßigkeit stimmte auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu. In einer Aussendung wurde der Fall der georgischen Familie im Detail geschildert und unter anderem dargestellt, dass sie sich seit fast vier Jahren unrechtmäßig in Österreich befunden habe. Es hätten insgesamt sechs Abschiebeversuche aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt werden können. Die wiederholt gleichlautenden Asylvorbringen und die Integration seien sowohl vom BFA als auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) geprüft und gewürdigt worden. Das BVwG habe zudem bestätigt, dass eine Verletzung des Kindeswohls nicht ersichtlich sei. Die eingebrachten Revisionen seien vom Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mehrmals zurückgewiesen worden, so das BFA.

Grüne und das „Prinzip Hoffnung“

„Die Tatsache der unterschiedlichen Positionen von Grünen und ÖVP in der Frage war schon klar“, so der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier zu ORF.at. Daher habe man sich im Koalitionspakt darauf verständigt gehabt, sich im Streitfall nach anderen Mehrheiten umsehen zu können („koalitionsfreier Raum“). „Die Grünen haben offenbar nach dem Prinzip Hoffnung agiert“, es möge kein aufsehenerregender Fall auftreten – „eher unwahrscheinlich in fünf Jahren Legislaturperiode“, so Filzmaier. Entweder die Grünen hätten beschwichtigt mit der Aussage, eine weitere Prüfung des Falls sei vom Innenministerium zugesichert worden, oder man habe sie „ganz bewusst ohne Informationen verhungern lassen“ – wer auch immer das gewesen sein könnte, ob ÖVP, Ministerium oder die Beamten. „Welche Variante stimmt, weiß ich nicht“, so Filzmaier.

Abschiebungen: Mehr Mitsprache für Länder und Gemeinden gefordert

Nach der Abschiebung von drei Schülerinnen und ihren Familien Donnerstagfrüh in Wien fordern die Länder und Gemeinden jetzt mehr Mitspracherecht in solchen Fällen. Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) fordert eine Neuregelung des humanitären Bleiberechts, und auch der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) kann sich mehr Einbeziehung der Länder vorstellen.

Abgesehen von moralisch-ethischen Fragen – vom strategischen Standpunkt her sei hier die Position der ÖVP klar. Im Wettstreit um die Stimmen der FPÖ (die ÖVP habe 15 Prozent ihrer Stimmen von ehemaligen FPÖ-Wahlern) versuche man zu gewinnen. Rein stimmentechnisch gesehen hätten die Grünen hingegen beim Thema Migration noch nie Vorteile gewonnen. Sie müssten aber nun um die 200.000 Stimmen bangen, die sie bei der letzten Wahl von der SPÖ erhielten. Zudem habe nun NEOS bei den bürgerlichen Grün-Wählern bessere Chancen. Für die Grünen sei das eine „No-win-Situation“, so Filzmaier. Ihre Optionen seien begrenzt. Ein Austritt aus der Koalition, etwa auch im fliegenden Wechsel, bedeute die Rückkehr auf die Oppositionsbank.

Option des humanitären Bleiberechts

Debattiert wurde in der Politik am Freitag auch über weitere Optionen. Neben einer Härtefallkommission der Länder kam auch zur Sprache, ob in Österreich geborene Kinder die Staatsbürgerschaft bekommen sollen. Wöginger sah hier am Freitag im Ö1-Mittagsjournal keinen Änderungsbedarf. Für ihn sind die Gerichte die Härtefallkommission. Die hätten auch im aktuellen Fall alles betrachtet.

Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) forderte, dass bei derartigen Härtefällen zumindest auch Länder und Gemeinden angehört und ihre Stellungnahme in die Entscheidung über ein humanitäres Bleiberecht, das der Innenminister aussprechen kann, einbezogen wird. Zudem fand er, man müsse ernsthaft über das Thema Staatsbürgerschaften und die Anerkennung für alle in Österreich geborenen Menschen diskutieren. Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner sagte, er gehe von der Rechtmäßigkeit der Vorgänge aus. „Bei einer moralischen Betrachtung der Dinge kommt man natürlich ins Schwanken in dem Zusammenhang.“ Auch er regte an, die geltende Rechtslage zu überdenken. Auch Caritas und Salzburgs Erzbischof Franz Lackner sprachen das humanitäre Bleiberecht an – mehr dazu in religion.ORF.at.

Die Gesetzmäßigkeit der Abschiebungen wurde auch von einer Reihe prominenter Künstlerinnen und Künstler nicht angezweifelt. Sie setzten sich am Freitag dennoch dagegen ein und veröffentlichten gemeinsam ein Protestschreiben. „Die Heuchelei der Regierung über menschliches Mitgefühl, den Schutz der Familie und Achtsamkeit im Umgang miteinander ist nicht mehr zu ertragen“, heißt es in dem von unter anderen Elfriede Jelinek, Michael Köhlmeier und Lukas Resetarits unterzeichneten Schreiben – mehr dazu in wien.ORF.at.

Schülerin vor Matura

Unter den Schülerinnen, die am Donnerstag aus Wien abgeschoben wurden, befand sich auch eine junge Armenierin, die im Mai 2016 als Minderjährige nach Österreich gekommen war und demnächst an einer Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe die Matura hätte ablegen sollen. Gemeinsam mit der 20-Jährigen wurden laut Eva Velibeyoglu, der Anwältin der Familie, auch die Eltern sowie der 16 Jahre alte Bruder der Schülerin außer Landes gebracht. Der 16-Jährige befürchte nun, dass er in Armenien zum Wehrdienst eingezogen wird und damit sein Leben wegen des Konflikts um die Region Bergkarabach in Gefahr steht.

Die Familie war auf Basis eines rechtskräftigen letztinstanzlichen Asylbescheids am vergangenen Montagabend in ihrer Wohnung in Wien-Favoriten von der Fremdenpolizei festgenommen und ins Abschiebezentrum in der Zinnergasse gebracht worden. Am Donnerstag wurden sie außer Landes geschafft. Der Vater soll sich zuletzt infolge einer Erkrankung in Therapie befunden haben, seine Frau hatte einen Arbeitsvorvertrag. Zum Zeitpunkt ihrer Abschiebung war beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine Beschwerde gemäß Artikel 144 B-VG gegen den Bescheid des BVwG anhängig. Wie Velibeyoglu der APA berichtete, habe der VfGH der belangten Behörde – dem BVwG – eine einwöchige Frist zur Stellungnahme ihrer Beschwerde eingeräumt. Dessen ungeachtet und obwohl der Antrag an den VfGH mit der Bitte um eine aufschiebende Wirkung verbunden war, sei die Familie nach Tiflis gebracht worden.