Max Burchartz, Lotte (Auge), 1928, Silbergelatinepapier
Museum Folkwang, Essen © Bildrecht, Wien 2021
Fotoschau „Faces“

Wie das Gesicht zur Obsession wurde

Mit „Faces. Die Macht des Gesichts“ zeichnet die Albertina den radikalen Wandel der Porträtfotografie in den 1920er und 1930er Jahren nach. Anstelle des klassischen Porträts traten Experimente mit Identitäten und neuen Stilmitteln, die später die völkisch-rassistische Propaganda für sich zu nutzen wusste. Im Zentrum der Ausstellung: das Werk des bisher wenig gewürdigten Helmar Lerski, eines Fotokünstlers, der mit Licht zaubern konnte.

Lerski war überzeugt, dass die Porträtierten nur Requisite sind, der eigentliche Darsteller ist die Beleuchtung. Mit seinem Opus Magnum, der Serie „Verwandlungen durch Licht“ von 1935/36, sollte der 1871 in Straßburg geborene Künstler dafür einen Beweis erbringen. Mit minimaler Mimik, aber umso mehr Licht-und-Schatten-Spiel formte er das Gesicht seines Darstellers nach Belieben. Die Technik dahinter: eine ausgeklügelte Apparatur mit Spiegeln zur Lenkung des Sonnenlichts.

33 dieser beeindruckenden, insgesamt 137 Bilder fassenden Schwarz-Weiß-Serie stehen im Mittelpunkt neuen „Faces“-Schau in der Albertina. Das aus nächster Nähe fotografierte Gesicht tritt hier fast skulptural in Erscheinung. Mit glänzender Haut, tiefliegenden Augen, markanten sommersprossigen Wangenknochen zeichnen die Bilder hier etwa einen Mann zwischen Heroik, Zweifel und Erstaunen, was bisweilen an die „Charakterköpfe“ von Franz Xaver Messerschmidt erinnert.

Gesicht als modellierbare Masse

„Eine fast obsessive Beschäftigung mit dem Gesicht“ habe die 1920er und 1930er Jahre geprägt, so fasst Kurator Walter Moser den Hintergrund von „Faces“ zusammen. In fünf Kapiteln und mit 154 Fotografien erzählt die Schau, wie die Avantgarde der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Österreich mit dem bürgerlichen Porträt brach und radikal Neues schuf.

Fotostrecke mit 7 Bildern

Helmar Lerski, Verwandlungen durch Licht, 588, 1935–1936, Silbergelatinepapier
ALBERTINA, Wien © Nachlass Helmar Lerski – Museum Folkwang, Essen
Helmar Lerski, „Verwandlungen durch Licht, 588“, 1935–-1936
Helmar Lerski, Verwandlungen durch Licht, 604, 1935–1936, Silbergelatinepapier
ALBERTINA, Wien © Nachlass Helmar Lerski – Museum Folkwang, Essen
Helmar Lerski, „Verwandlungen durch Licht, 604“, 1935–-1936
Marta Astfalck-Vietz, Ohne Titel (Marta Vietz, Akt mit Spitze), um 1927, Silbergelatinepapier
Dietmar Katz/Berlinische Galerie © VG Bild-Kunst, Bonn
Marta Astfalck-Vietz, „Ohne Titel (Marta Vietz, Akt mit Spitze)“, um 1927
Gertrud Arndt, Maskenselbstbildnis Nr. 22, 1930, Silbergelatinepapier
Museum Folkwang, Essen © Bildrecht, Wien 2021
Gertrud Arndt, „Maskenselbstbildnis Nr. 22“, 1930
Willy Zielke, Arbeitslos. Ein Schicksal von Millionen / Die Wahrheit. Ein Film von dem Leidensweg des Deutschen Arbeiters, 1933, Silbergelatinepapier
Galerie Berinson, Berlin
Willy Zielke, „Arbeitslos. Ein Schicksal von Millionen / Die Wahrheit. Ein Film von dem Leidensweg des Deutschen Arbeiters“, 1933
Erich Retzlaff, Brauttracht aus dem Kleinen Walsertal, aus: Deutsche Trachten, vor 1936, Silbergelatinepapier auf Karton
ALBERTINA, Wien – Dauerleihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung für Kunst und Wissenschaft, © Volker Graf Bethusy-Huc
Erich Retzlaff, „Brauttracht aus dem Kleinen Walsertal“, aus: „Deutsche Trachten“, vor 1936
Franz Roh, Maskenspiel, 1928-1933, Silbergelatineabzug
Münchner Stadtmuseum – Nachlass Franz Roh, München
Franz Roh, „Maskenspiel“, 1928–1933

Schon seit der Renaissance hatte das Porträt als Mittel gegolten, um der Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Nun wurde das Gesicht mittels Requisiten, dramatischer Beleuchtung und Detailaufnahmen zur modellierbaren Masse. Im ersten Abschnitt unter dem Titel „Rollenbilder“ sieht man die Berliner Bauhauskünstlerin Gertrud Arndt mit Rüschenkleid, Schleier und Hutkreationen in Rollen zwischen feiner Dame und Vamp schlüpfen.

Ausstellungshinweis

Faces. Die Macht des Gesichts. Albertina Wien, ab 12. Februar, täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Maskiert, in Spitze und mit erotischem Anstrich inszeniert sich auch die Fotografin Marta Astfalck-Vietz in ihren Selbstporträts. Zu Cindy Sherman, die in den 1960ern in ihren berühmten „Film Stills“ weibliche Rollenbilder dekonstruierte, scheint da kein weiter Weg mehr. Dass es vor allem Frauen waren, die sich hier lustvoll in Szene setzten, hatte nicht zuletzt mit dem Vakuum des Ersten Weltkriegs zu tun, dass ihnen den Raum öffnete, als Fotografinnen zu reüssieren.

Inspirationsquelle Stummfilm

Geprägt wurde die „neue“ Fotografie auch vom aufkommenden expressionistischen Stummfilm, der eine theatrale Lichtregie als zentrales Stilmittel verwendete. Vor allem Lerskis Serien, die nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Arbeit als Kameramann und Techniker etwa bei Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“ (1927) entstanden, zeigen hier das Potenzial des Modellierens mit Licht.

Max Burchartz, Lotte (Auge), 1928, Silbergelatinepapier
Museum Folkwang, Essen © Bildrecht, Wien 2021
In den 1920ern wurde die Großaufnahme zum zentralen Stilmittel, hier Max Burchartz’ „Lotte (Auge)“, 1928

Für „Köpfe des Alltags“ (1928–1931) hatte Lerski etwa am Berliner Arbeitsamt Arbeitslose verschiedener Berufe gecastet, um sie in würdevollen, in theatrales Licht gesetzten Posen zu inszenieren. Die sozialistisch-humanistische Motivation Lerskis trat da offen hervor, was zeitgenössische Kommentatoren auch kritisierten: Man hätte ihm vorgeworfen, dass Lerski eine „Reinigungsfrau“ wie eine Adelige inszenieren würde, erzählt Moser im Gespräch.

Als Lichtexperimentator war Lerski nicht allein: Oskar Nerlinger inszenierte sich im geisterhaften Lichtkegel einer Taschenlampe (1928). Fast abstrakt wirkt Laszlo Moholy-Nagys „Ohne Titel“ (1925–28), für das er seinen Kopf direkt auf lichtsensibles Fotopapier legte.

Großaufnahme als zentrales Stilmittel

Zum modernistischen Mittel par excellence wurde schließlich die Großaufnahme, ebenfalls inspiriert vom Stummfilm, der durch eine stark sichtbare Mimik den Affekt auf die Zuseherinnen und Zuseher übertragen wollte. Ungewöhnliche Ausschnitte, die etwa das Kinn oder eine Gesichtshälfte aussparten, dominierten nun das Genre.

Als Beispiele dafür fungieren in „Faces“ die auf drei Seiten beschnittenen Starporträts Trude Fleischmanns von der österreichischen Schauspielerin Maria Schanda (1933) und Max Burchartz’ „Lottes Auge“ (1928), das Porträt seiner Tochter. Andere wiederum trieben die Detailaufnahme weiter auf die Spitze und setzten auf die Fragmentierung des Körpers.

Haut als abstrakte Landschaft

Lerskis Aufnahmen von faltiger Haut (1941) erforschen ebenso den Körper als abstrakte Landschaft wie Paul Edmund Hahns „Wellenberge der Stirn“ (1930) – Letzterer mit komödiantischen Einschlag. Intime Erotik strahlen dagegen Ilse Salbergs Nahaufnahmen von Rumpf und Nacken ihres Partners aus, des Künstlers Anton Räderscheidt (1928).

August Sander, Jungbauern, 1914, Silbergelatinepapier
© Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln; BILDRECHT, Wien, 2021
Mit seinem Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ wollte August Sander die gesamte Gesellschaft der Weimarer Republik katalogisieren, hier: Jungbauern, 1914

Die Fragmentierung des Porträts sei, so Kurator Moser, auch unter der Erfahrung des Ersten Weltkriegs entstanden. Nach dieser Katastrophe sei der Mensch „nicht mehr ganzheitlich wahrgenommen worden“.

Großprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“

Ein weiterer Abschnitt ist hier August Sanders Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ (ab 1925) gewidmet. Dessen ehrgeiziges Ziel war es, die gesamte Gesellschaft der Weimarer Republik zu katalogisieren. In fast ausschließlich distanzierten Ganzkörperaufnahmen sieht man hier eine Auswahl aus insgesamt über 600 Porträts, die der deutsche Fotograf von Menschen bei der Berufsausübung anfertigte.

Vom weißbekittelten Konditor und Polizeibeamten mit imposantem Schnurrbart, über den Baukünstler mit klassischer Architektenbrille bis hin zum Arbeitslosen, dem die Sorgen des Alltags schwer auf den Schultern zu lasten scheinen. Zeigte Sanders imposantes Archiv noch eine höchst diverse Gesellschaft, diente das Gesicht im sozial aufgeheizten Umfeld der Weimarer Republik, im österreichischen Ständestaat und im Nationalsozialismus schließlich als Projektionsfläche für politische Ideologien.

Bauern und Arbeiter als völkische Heroen

Im letzten Raum zeigt „Faces“, wie modernistische Stilmittel, allen voran der Einsatz von Licht, dazu verwendet wurden, die Figur des Bauern und des Arbeiters zu heroisieren und zum scheinbar authentischen Subjekt einer Blut-und-Boden-Ideologie zu stilisieren. Die Fotografien sind hier, als einzige in der Ausstellung, in einer Vitrine versammelt und werden dort nur über Bücher präsentiert, um „die propagandistischen Bilder nicht ungefiltert wirken zu lassen“, so Moser.

Das Kapitel zur „rassentheoretischen“ Typenbildung im Nationalsozialismus spart „Faces“ aus. Als starker Konterpart macht Lerskis Serie „Araber und Juden“ (1941) den Abschluss, die der jüdischstämmige Lerski, der 1932 nach Palästina geflüchtet war, bereits im Exil aufnahm.

Auch hier sieht man Gesichter, diesmal von Juden und Arabern, die durch den Einsatz von Licht völlig wandelbar scheinen. In der Vielfältigkeit der Erscheinungsformen verwehrt sich Lerksi einmal mehr einer reduktiven Fixierung und macht deutlich, dass es das eine, vermeintlich „wahre“ Antlitz gar nicht gibt.