Viele Menschen auf einer Fußgängerzone in Wien
APA/Helmut Fohringer
Mutierte Viren

Warnungen vor dritter Welle

Angesichts hoher Infektionszahlen trotz des Lockdowns und der anhaltenden Verbreitung unterschiedlicher Virusvarianten wächst die Sorge vor einer neuen großen Pandemiewelle. Besonders in Deutschland wird diese Möglichkeit schon länger diskutiert. Auch in Österreich warnen Fachleute, ein neuer Schub sei nur noch eine Frage der Zeit.

In ganz Europa machte sich in den vergangenen Tagen und Wochen die Sorge breit, eine große neue Infektionswelle baue sich unbemerkt auf. Die unterschiedlichen Virusvarianten stellen für die weltweite Planung im Kampf gegen die Pandemie große Hindernisse dar. In Österreich wurden bisher zwei Mutationen bestätigt: B.1.1.7., die zunächst in Großbritannien auftrat, und B.1.351, zuerst in Südafrika entdeckt und nun vor allem in Tirol vertreten. Die Variante B.1.1.28, die zuerst in Brasilien Platz griff, wurde in Österreich noch nicht entdeckt.

Allen dreien ist gleich, dass sie infektiöser sind als der Wildtypus und sich damit schneller ausbreiten können. Zudem gibt es bei B.1.351 die starke Vermutung, dass die bisherigen Impfstoffe weniger wirken. Ob der Wettlauf gegen die Virusvarianten überhaupt noch gewonnen werden kann, wird von etlichen Fachleuten bezweifelt.

Dritte Welle „im März“

Gerald Gartlehner, Epidemiologe von der Donau-Universität Krems und Mitglied der Ampelkommission, sagte am Dienstag im ORF-„Report“, Österreich habe bereits viel Zeit vergeudet. „Alle prognostischen epidemiologischen Modelle, die ich aus Österreich kenne, zeigen im Prinzip genau das Gleiche. Sie zeigen in eine Richtung, nämlich einen starken Anstieg des Infektionsgeschehens aufgrund der Lockerungen und aufgrund der britischen Variante“, so Gartlehner.

Epidemiologe Gartlehner im ORF-„Report“

Epidemiologe Gerald Gartlehner erklärt, ob die Maßnahmen der Regierung ausreichen, um eine weitere Verbreitung der mutierten Virusvarianten einzudämmen.

Er erwartet eine dritte Welle in Österreich im März, so Gartlehner auf Anfrage von ORF.at. „Ich denke, im März sollten wir uns darauf vorbereiten, wenn die Annahmen der Modelle stimmen.“ In diesen Modellen sei aber die „südafrikanische“ Variante noch gar nicht einberechnet, sie beziehen sich also nur auf die „britische“. Diese sei auch schon dafür mitverantwortlich gewesen, dass der Lockdown die Infektionszahlen nicht weiter drücken konnte, so Gartlehner.

„Spiel mit Feuer“

Die derzeitigen Lockerung in Österreich seien ein „Spiel mit dem Feuer“, sagte Gartlehner vorige Woche zur APA. Auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner kritisierte die Öffnungsschritte angesichts der Mutationen und einer möglichen dritten Welle. Am Mittwoch sagte sie bezüglich B.1.351, die nun vermehrt in Tirol auftrat, die Maßnahmen seien „zahnlos“ und „zögerlich“. Sie würden nicht verhindern, „was schon längst hätte verhindert werden müssen“, so Rendi-Wagner, „dem neuen Virus Tür und Tor zu öffnen“. Experten hätten bereits vor Wochen vor der Variante gewarnt.

Der Komplexitätsforscher Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) hätte sich auch rascheres Gegensteuern gewünscht. „Wenn man dann genügend Daten zur Verbreitung der Variante hat, ist es schon zu spät“, sagte er am Mittwoch zu APA Science. Je nach Umsetzung der Maßnahmen in Tirol, um die Mutante zu begrenzen, hänge ab, ob eine Verzögerung der bundeslandübergreifenden Ausbreitung gelinge. „Dass wir das jetzt nicht mehr so schnell wegbringen werden, ist auch klar“, so Klimek. Werde die Version tatsächlich eingedämmt, sei es realistisch, dass Österreich ohne große exponentielle Wachstumphasen in den kommenden Wochen in Richtung der wärmeren Jahreszeit kommt.

Dritte Welle wohl schon angekommen

Einige Länder wähnen sich gar schon mittendrin in der dritten Welle, etwa Portugal. Das Land mit zehn Millionen Einwohnern musste um internationale Hilfe bitten, weil die Kliniken heillos überfüllt waren. Seit Beginn der Pandemie starben in Portugal insgesamt mehr als 13.000 Menschen nach einer CoV-Infektion, fast die Hälfte davon im Jänner. Als Ursache gilt auch hier die Variante B.1.1.7, die zuerst in Großbritannien aufgetreten war. Ein strenger Lockdown Mitte Jänner kam zu spät. Erst langsam stabilisieren sich die Zahlen wieder.

Griechenland kündigte erst jüngst einen strikten Lockdown bis Ende Februar an, um einer möglichen dritten Welle vorab zu begegnen. Kindergärten und Schulen schlossen nach nur zwei Wochen erneut, ebenso der Großteil des Handels. „Die Analysen, die ich von Experten bekomme, besagen, dass diese dritte Welle auch unser Land erreicht“, sagte Gesundheitsminister Vassilis Kikilias. Im Großraum Athen seien schon jetzt über 70 Prozent der Covid-19-Patienten vorbehaltenen Intensivbetten belegt.

Bulgarien befürchtet eine dritte Welle nach Angaben des Coronavirus-Stabes innerhalb der kommenden zwei Wochen. In Schweden warnte Sozialministerin Lena Hallengren: „Es besteht ein wirkliches Risiko für eine dritte Welle der Infektionsausbreitung, und die Lage kann sich deshalb schnell verschlechtern.“

Merkel sieht Risiko

Zunehmend lauter werden auch die Warnungen in Deutschland. Zahlreiche Fachleute – Intensivmediziner, Epidemiologinnen und Amtsärzte – sprechen seit Wochen das Risiko einer dritten großen Welle an. Der Magdeburger Uniklinik-Professor Felix Walcher, Präsidiumsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), sagte etwa: „Unsere größte Sorge ist, dass durch die Impfungen und Lockerungsdiskussionen der Eindruck erweckt wird, die Krise sei bald überwunden, und die Vorsicht der Bürger, sich an die notwendigen Maßnahmen zu halten, nachlässt“, sagte er. „Wenn das passieren sollte, dann werden wir eine dritte Welle mit Virusmutationen erleben, deren Folgen unabsehbar sind.“

„Ärzte und Pflegekräfte auf den Intensivstationen sind wirklich erschöpft – und wir rechnen mit einer dritten Welle, ohne die zweite schon hinter uns zu haben“, so DIVI-Präsident Gernot Marx. Der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner hält nicht nur eine dritte, sondern auch eine vierte und fünfte Welle für möglich.

Die Rufe erreichten offenbar auch die deutsche Politik: Am Mittwoch einigten sich Bund und Länder darauf, den Lockdown bis zum 7. März zu verlängern. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte bereits vor der Entscheidung ebenso wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor zu schnellen Lockerungen gewarnt. Man dürfe nicht warten, bis sich neue, besonders ansteckende Varianten des Coronavirus ausbreiteten. „Dann wäre es zu spät, um eine dritte Welle der Pandemie und gegebenenfalls eine noch heftigere als jemals zuvor zu verhindern“, so Merkel schon Ende Jänner.