Kerry James Marshall, Untitled (policeman), 2015
Museum of Modern Art/Jonathan Muzikar
„Black Lives Matter“

Die Suche nach „heilenden“ Bildern

Mit „Grief and Grievance“ (etwa „Trauer und Beschwerde“) läuft am Mittwoch im New Yorker New Museum wohl die US-amerikanische Kunstausstellung der Stunde an: Im Schatten von „Black Lives Matter“ und dem Ende der Trump-Präsidentschaft gibt sie den afroamerikanischen Gewalterfahrungen künstlerischen Ausdruck. Wenn die US-Gesellschaft eine dieser Tage vielzitierte „Heilung“ durchlaufen soll, dann braucht es Platz für Trauerarbeit: mit Jean-Michel Basquiat, minimalistischen Skulpturen und Abstraktionen.

Die Neonlettern „Blues blood bruise“ (etwa: „Blues Blut Prellung“) prangten schon 2015 am Gardini-Hauptpavillon der Venedig-Biennale. Kuratiert wurde diese damals von Okwui Enwezor, einer Koryphäe seines Fachs, der die afrikanische und nicht westliche Kunst in den Blick des internationalen Ausstellungsbetriebes rückte.

Die minimalistische Arbeit des afroamerikanischen Künstlers Glenn Ligon sieht man nun auch in „Grief and Grievance“, jener Ausstellung, die als Vermächtnis des 2019 verstorbenen Enwezor gilt. Die drei Wörter der Neonröhreninstallation spielen auf das Stück „Come Out“ (1966) des weißen Minimal-Music-Komponisten Steve Reich an, der damit wiederum dem schwarzen Teenager Daniel Hamm ein Denkmal setzte, der 1964 als Mordverdächtiger von der Polizei brutal zusammengeschlagen wurde.

Zwischen Weckruf und „Black Death Spectacle“

In dieser Skulptur schwingen bereits zwei zentrale Botschaften von „Grief and Grievance“ mit: Die Beschäftigung mit schwarzen Gewalterfahrungen ist nicht nur eine Sache eines Bevölkerungsteils, sie betrifft alle. Und dafür – so eine weitere Ausgangsthese – braucht es andere Bilder als die millionenfach zirkulierenden Videos weißer Polizeigewalt, die längst nicht mehr nur Belege bei möglichen Gerichtsprozessen sind, sondern Bildikonen, die gesellschaftliche Sichtweisen lenken.

Fotostrecke mit 7 Bildern

Glenn Ligon, A Small Band, 2015
Roberto Marossi
Glenn Ligon, „A Small Band“, in der Ansicht von 2015 auf der Biennale Venedig
Jack Whitten, Birmingham, 1964
Courtesy the Jack Whitten Estate and Hauser & Wirth
Jack Whittens „Birmingham“ von 1964 ist einer der historischen Eckpfeiler der Ausstellung
Rashid Johnson, Antoine’s Organ, 2016. Black steel, grow lights, plants, wood, shea butter, books, monitors, rugs, piano
Rashid Johnson. Courtesy the artist and Hauser & Wirth
Rashid Johnson, „Antoine’s Organ“, in einer Ansicht von 2016
Nari Ward, Peace Keeper, 1995
Installation views: Whitney Museum of American Art, New York, 1995
Nari Ward, „Peace Keeper“, 1995
Ellen Gallagher, Dew Breaker, 2015
Private collection. Courtesy the artist and Hauser & Wirth
Ellen Gallagher, „Dew Breaker“, 2015
Garrett Bradley, Alone, 2017 (still)
Garrett Bradley
Garrett Bradley, „Alone“, 2017 (Filmstill)
Theaster Gates, Gone Are the Days of Shelter and Martyr, 2014
Theaster Gates. Courtesy White Cube and Regen Projects
Theaster Gates, „Gone Are the Days of Shelter and Martyr“, 2014

Die einen nennen diese schrecklichen Videos Weckrufe, die mit „Black Lives Matter“ erst die größte Bürgerrechtsbewegung seit den 1960ern auslösten. Die anderen sprechen von „Pain porn“ (etwa „Schmerz-Pornographie“) oder von „Black death spectacle“ (etwa „Schwarzer Tod als Spektakel“), deren Geschichte bis zur Zurschaustellung der Lynchmorde durch den Ku-Klux-Klan reiche – und die eher retraumatisierend wirken und Gräben vertiefen würden, als zu ihrer Auflösung beizutragen.

„Wie können diese Bilder zirkulieren, ohne dass sie schwarzes Leid ausbeuten?“, formulierte Kurator Enwezor die Frage nach einer angemessenen Repräsentation der grausamen Taten hinter solchen Bildern.

Von Kara Walker bis Judith Butler

Die Antwort, jetzt zu sehen im New Yorker New Museum, ist natürlich vielfältig: „Grief and Grievance. Art and Mourning in the USA“ versammelt Arbeiten von 37 Künstlerinnen und Künstlern von den 1960er Jahren bis heute, darunter Größen wie Kara Walker, LaToya Ruby Frazier und Kerry James Marshall. Mit diesen künstlerischen Positionen befragt die Schau die Geschichte der schwarzen Trauer angesichts des aufkommenden weißen Nationalismus, der unter Trump an Fahrt aufnahm.

Präsentiert werden Skulptur, Malerei, Fotografie und Bewegtbild – darunter etwa auch Arthur Jafas frenetisch gefeiertes Video „Love is the Message, the Message is Death“ (2016), das YouTube-Hits mit Archivaufnahmen historischer Figuren wie Martin Luther King, Barack Obama und Serena Williams verschneidet. Für die Begleitpublikation schrieben unter anderem Judith Butler und der Journalist Ta-Nehisi Coates, der mit seinem einflussreichen Buch „We Were Eight Years in Power“ tiefgreifenden Rassismus als Ursache für Trumps Wahlerfolg ausmachte.

Kunstpionier des Postkolonialen

Die Prominenz der Beteiligten, die große Resonanz im Vorfeld, das alles hat damit zu tun, dass es sich um die letzte Ausstellung eines legendären Kurators handelt. Die Rolle des aus Nigeria stammenden, an Krebs verstorbenen Enwezor, der 2002 die documenta leitete und später am Münchner Haus der Kunst Direktor wurde, beschreiben Kollegen „als kaum zu überschätzen“.

Dawoud Bey, Fred Stewart II and Tyler Collins, from the series “The Birmingham Project," 2012. Archival pigment prints mounted on Dibond, 40 x 64 in (101.6 x 162.6 cm)
Dawoud Bey. Courtesy Rena Bransten Gallery; CA and Rennie Collection
Dawoud Bey, Fred Stewart II and Tyler Collins, aus der Serie „The Birmingham Project“, 2012

Enwezor öffnete für den westlichen Ausstellungsbetrieb nachhaltig das Fenster in die Welt und wurde so richtungsweisend für die postkoloniale Wende in der Kunstwelt. Zu seinen Qualitäten zählte es, nicht nur Künstlerinnen und Künstler aus Afrika und anderswo in die westlichen Kunsttempel holen, sondern sie auch gemeinsam ausstellen und so vor Augen zu führen, wie untrennbar sie durch die koloniale und postkoloniale Geschichte miteinander verbunden waren.

Zwischen prophetisch und am Punkt der Zeit ist Enwezor auch mit dieser Ausstellung – denn konzipiert wurde „Grief and Grievance“, die eigentlich im US-Präsidentschaftswahl-Finale als „Schrei nach Demokratisierung“ hätte eröffnet werden sollen, schon 2018, noch vor dem Tod George Floyds und dem Beginn von „Black Lives Matter“.

Historische Arbeiten als „Eckpfeiler“

Vollendet hat die Ausstellung nun ein Kuratorenteam rund um New-Museum-Direktor Massimiliano Gioni, 85 Prozent sollen bereits von Enwezor konzipiert worden sein. Seinem Wunsch folgend startet nun jedes der drei Stockwerke des New Museums mit einer historischen Arbeit.

Basquiats „Procession“ von 1986 zeigt vier Figuren, die einem schwarzen Mann folgen, der einen Totenkopf in die Höhe streckt. Jack Whittens „Birmingham“ aus dem Jahr 1964 erinnert mit einem schwarzen Loch aus Zeitungspapier, Öl und Aluminiumfolie an einen Bombenanschlag 1963 auf eine schwarze Kirche.

Abstraktion als Mittel der Wahl

Mit dicken Schichten Pech arbeitet Daniel LaRue Johnsons Gemälde „Freedom Now, Number 1“ aus demselben Jahr. Aus dem dichten Schwarz der Leinwand ragt nur ein „Freedom Now“-Button hervor. Die schwarze Farbe wird hier zum Teer der Straße, auf der damals die Demos gegen „Rassentrennung“ niedergeschlagen wurden.

Julie Mehretu, Rubber Gloves (O.C.), 2018
Tom Powel Imaging
Eine der zahlreichen Abstraktionen: Julie Mehretu, „Rubber Gloves (O. C.)“, 2018

Der Teer macht zugleich das Bedeutungsfeld Folter auf: Die Arbeit geht so nicht im Figurativen, also im Abbild unmittelbarer Repression auf, sie weist ins Abstrakte – ein Ansatz, der bei den Malereien von Julie Mehretu und Mark Bradford noch stärker zur Geltung kommt.

„Abstraktion schien für Okwui besonders gut geeignet, um den ‚Notfall der schwarzen Trauer‘ anzusprechen“, heißt es dazu im Katalog. Abstraktion helfe uns, „mit der Gewalt fertig zu werden, indem sie Bilder verhüllt, die zu gewalttätig sind, um sie zu sehen“, so auch Gioni im „Guardian“-Interview. „Nicht um traumatische Bilder zu unterdrücken, sondern um sie zu heilen und sie für neue politische Zwecke mächtiger zu machen.“

Starke, düstere Bilder

Es sind starke, naturgemäß oft düstere Arbeiten, die „Grief and Grievance“ versammelt: Der Maler Kerry James Marshall fertigte mit „Untitled (policeman)“ 2015 ein in Schwarz- und Blautönen gehaltenes Porträt eines schwarzen Cops zwischen Gleichmut, Trauer und Melancholie an.

Ausstellungshinweis

Grief And Grievance: Art and Mourning in America. New Museum, New York, 17. Februar bis 6. Juni 2021.

Melvin Edwards zeigt seine „Lynch Fragments“ (ab 1960), Skulpturen mit einer, so der Katalog, „an ein Schwarzes Loch erinnernden Dichte“. Im Stiegenhaus des New Museum hängen lange blaue Stoffbahnen von Hank Willis Thomas von der Decke, bedruckt mit 14.719 weißen Sternen – so viele Menschen sind 2018 in den USA ermordet worden.

Von der Idee her einfach, aber nicht minder stark sind die Fotoarbeiten des „Birmingham Projekt“: Dawoud Bey erinnert darin an vier schwarze Kinder, die 1963 bei einem Anschlag ums Leben kamen. Die Diptychen porträtieren links einen Jugendlichen im Alter des ermordeten Kindes, rechts davon einen 50 Jahre älteren Erwachsenen im Alter des Kindes, hätte es überlebt. Es ist ein Versuch über die Unmöglichkeit, in Bilder zu fassen, welche Lücke der Tod gerade eines jungen Menschen hinterlässt.

Heilung durch Musik

Aber auch positivere Töne werden angestimmt: Rashid Johnson hat mit seinem „Antoine’s Organ“ ein raumgreifendes Stahlgerüst zwischen Gefängniszelle und minimalistischem Kubenkonglomerat entworfen, aus dem unzählige Pflanzen wuchern. Das pulsierende Herz in der Mitte ist ein Klavier, auf dem ein Pianist jazzige Lieder tönen lässt.

Dass hier Musik angestimmt wird, hat nicht zuletzt etwas mit Enwezors Zugang zur Kunst zu tun. Der Kurator, der die Kunst einst über die Lyrik entdeckt hatte und der während seines Studiums in New York in die Musikszene eintauchte, betrachtete Kultur nicht abstrakt, sondern als gelebte Erfahrung. Bei all der Schwere und des Leids, durch die sich die Ausstellung arbeitet, sind es Werke wie diese, die auch einen Ausblick geben – mit der Musik und ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft.