Polizeikontrolle an der Grenze
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„Völlig inakzeptabel“

Scharfe Kritik an deutschen Einreiseregeln

Die Bundesregierung kritisiert die verschärften Einreiseregeln an den deutschen Grenzen zu Tirol und Tschechien, um die Ausbreitung besonders ansteckender CoV-Varianten einzudämmen, scharf. Sowohl Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) als auch ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg äußerten am Sonntag ihr Unverständnis gegenüber der seit Sonntag geltenden Maßnahmen.

„Die de facto Sperre des großen und kleinen deutschen Ecks für Österreicherinnen und Österreicher ist absolut inakzeptabel. Diese Maßnahme von Bayern ist unausgegoren und löst nur Chaos aus“, sagte Nehammer in einer Stellungnahme gegenüber der APA.

„Mit dem Finger auf das Bundesland Tirol zu zeigen, ist vielmehr eine Provokation als eine geeignete Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie und ihrer Auswirkungen.“ Der Innenminister sah „auch für die Versorgungssicherheit in weiten Teilen Europas eine Gefahr – die vom bayrischen Ministerpräsidenten wohl bewusst negiert wird. Tirol ist nicht der Parkplatz Europas, sondern vielmehr die bedeutendste Verbindungsachse zwischen dem Süden und dem Norden der europäischen Staaten.“

Treffen mit Botschaftern im Außenministerium

Schallenberg forderte „Maß und Ziel“ strengerer Maßnahmen und warnte vor „überüberschießenden Schritten, die mehr schaden als nützen. Das habe ich heute auch meinen deutschen und italienischen Amtskollegen Heiko Maas und Luigi Di Maio mitgeteilt“, so Schallenberg. Noch am Sonntag würden zudem sowohl der deutsche als auch der italienische Botschafter zu einem Gespräch im Außenministerium erwartet.

Leere Autobahn bei Kiefersfelden
APA/AFP/Christoph Stache
Auf der bayrischen Seite nach der Grenze blieben die Autobahnen am Sonntag leer

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte unterdessen die schärferen Einreiseregeln. „Wir müssen unseren Landkreisen in der Grenzregion die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen“, sagte Spahn der „Süddeutschen Zeitung“. Es gehe bei den Einreiseregeln nicht darum, Haltungsnoten für Nachbarländer zu verteilen, sondern konstruktiv mit der Situation umzugehen. „Und die ist leider in Tschechien, aber auch in der Slowakei und in Tirol aus dem Ruder gelaufen. Wir mussten reagieren“, sagte Spahn.

Ausnahmen nur für „systemrelevante“ Pendler

Seit Sonntag gilt aus Tirol ein Einreiseverbot nach Deutschland. Nach einigem Hin und Her schien am Sonntag auch eine Lösung für Pendlerinnen und Pendler gefunden zu sein. Die Einreise nach Deutschland soll zumindest für einen Teil von ihnen weiter möglich sein – und zwar dann, wenn sie in einem „systemrelevanten“ Bereich tätig sind. Wer genau darunter fällt, muss aber noch festgelegt werden.

Die verschärften Einreiseregeln an den deutschen Grenzen zu Tirol und Tschechien, um die Ausbreitung besonders ansteckender Varianten des Coronavirus eindämmen, werden für bestimmte Berufspendler Ausnahmen vorsehen. Das teilten das deutsche Innenministerium und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Sonntag übereinstimmend mit. Somit dürfen Pendler aus Tirol nach Deutschland einreisen, wenn sie gebraucht werden, um den Betrieb in systemrelevanten Branchen aufrechtzuerhalten.

Sie müssen dafür in den kommenden Tagen ihren Arbeitsvertrag dabeihaben und an der Grenze vorzeigen. Bis Dienstag sollen die deutschen Bundesländer Bayern und Sachsen Betriebe als systemrelevant definieren und individuelle Bescheinigungen ausstellen, die an der Grenze vorgezeigt werden sollen. „Für Grenzpendler in systemrelevanten Berufsbranchen soll die Einreise möglich bleiben“, sagte der deutsche Innenminister Horst Seehofer. „Wir gehen pragmatisch vor, wo immer das möglich ist.“

Amtliche Bestätigung nötig

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sagte bei einem Pressetermin in Schirnding an der Grenze von Bayern zu Tschechien, zu den Ausnahmebranchen zählten etwa Wasser- und Elektrizitätswerke oder die Lebensmittelproduktion. Im Einzelnen müsse an Ort und Stelle darüber entschieden werden. Voraussetzung für die Einreise sei dann aber für alle ein maximal 48 Stunden alter negativer Test sowie eine Bescheinigung des Arbeitgebers. Zudem müssten sie sich digital vor der Einreise anmelden.

Deutsches Einreiseverbot in Kraft

Die Einreise aus Tirol nach Deutschland ist bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Die deutsche Regierung befürchtet, dass die in Tirol häufig auftretende Virusmutation ins Land eingeschleppt werden könnte. ORF-Reporter Alexander Weglehner gibt eine Einschätzung, wie die Verkehrslage unter der Woche aussehen wird.

Ein Sprecher der deutschen Bundespolizeidirektion in München sagte der APA auf Anfrage, bis einschließlich Dienstag müssten Pendler per Arbeitsvertrag beim Grenzübertritt nachweisen, dass sie in einem systemrelevanten Bereich tätig seien. Danach, also ab Mittwoch bei Tagesbeginn, würde eine amtliche Bescheinigung einer deutschen Behörde – etwa dem Landkreis, wo ein Pendler arbeite – nötig sein. Die Abstimmung zwischen den Behörden in Deutschland sei diesbezüglich aber noch im Fluss.

Platter fordert weiter generelle Ausnahme

Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) forderte am Sonntag aber weiterhin eine Ausnahme für alle Tiroler Pendler. Die derzeitige Situation sei „absolut inakzeptabel“. Zudem sei derzeit „entgegen anderslautender Aussagen das Durchfahren ohne Stopp über das kleine und große deutsche Eck“ nicht möglich. Jemand, der von Tirol nach Salzburg oder Wien reisen will, müsse nun „großräumig“ ausweichen. „Eine solche Vorgangsweise ist weder verhältnismäßig noch sinnvoll“, zeigte sich Platter verärgert.

Zum Schutz vor den ansteckenderen Varianten des Coronavirus dürfen seit Sonntag aus Tschechien und Tirol nur noch Deutsche sowie Ausländer mit Wohnsitz und Aufenthaltserlaubnis in Deutschland einreisen. Ausnahmen gab es bisher nur für Ärzte, Kranken- und Altenpfleger sowie für Lastwagenfahrer und landwirtschaftliche Saisonkräfte.

Folgen für Frachtverkehr

Wegen der neuen deutschen Einreiseregeln begann Tirol schon am Sonntag den Lastwagenverkehr aus Italien im Vorfeld zu kontrollieren und zu drosseln, um einen starken Rückstau und einen Verkehrskollaps im Inntal zu verhindern. „Wir lassen es nicht zu, dass Tirol der Parkplatz Europas wird. Aus diesem Grund wird in Abstimmung mit dem Bund eine Verordnung erlassen, die uns Kontrollen bereits am Brenner ermöglicht“, erklärten Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) und Verkehrslandesrätin Ingrid Felipe (Grüne).

Unmut herrschte allerdings nicht nur in Tiroler Politik. Der slowakische Außenminister Ivan Korcok intervenierte bei Deutschlands Außenminister Heiko Maas gegen Reisebeschränkungen für Lastwagenfahrer. Wie das Außenministerium in Bratislava am Samstag auf seiner Website mitteilte, ging es dabei um die Vorschrift, an der Grenze einen höchstens 48 Stunden alten Coronavirus-Test vorzuweisen, um nach Deutschland einreisen zu dürfen.

„Diese Maßnahme wird riesige Probleme verursachen und ist für unsere Lastwagenfahrer in der Praxis kaum erfüllbar“, erklärte Korcok seinem deutschen Amtskollegen nach Angaben seines Ministeriums. Die Slowakei habe deshalb eine diplomatische Note nach Berlin geschickt.

Autoindustrie befürchtet Produktionsstopp

Auch die deutsche Autoindustrie sah durch die Testpflicht gröbere Probleme auf die Branche zukommen. Durch die zu erwartenden Probleme an den Grenzübergängen werde die Automobilproduktion ab Montagmittag größtenteils zum Erliegen kommen, teilte ein Sprecher des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) am Sonntag in Berlin mit. „Die Werke in Ingolstadt, Regensburg, Dingolfing, Zwickau und Leipzig sind als erste betroffen.“ Die Autoindustrie fordert, bis zum Aufbau ausreichender Testkapazitäten an den Grenzen, mindestens aber für die nächsten vier Tage, auf eine ärztliche Testbestätigung zu verzichten und ersatzweise Selbstschnelltests für Fahrer zuzulassen.

Verweis auf hohe Inzidenz in tschechischer Grenzregion

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verteidigte die Grenzkontrollen bei der Einreise aus Tschechien. „Uns bleibt nichts anderes übrig“, sagte er am Samstag. Der Kampf gegen die Pandemie mache an einer Grenze nicht halt. Bisher sei die sächsische Linie gewesen, Regionen auf der anderen Seite der Grenze genau so zu behandeln, als wären sie ein Landkreis in Sachsen oder Deutschland.

In der tschechischen Region Eger liege die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen aber bei 1.100, sagte er. Bei einer solchen Inzidenz hätte man in Sachsen strenge Beschränkungen wie Ausgangssperren und die Schließung von Geschäften veranlasst, so Kretschmer. „Wenn das jetzt auf tschechischer Seite anders ist, dann müssen wir uns auch anders schützen. Bis jetzt, in den letzten Wochen, haben wir ein gemeinsames Verständnis gehabt. Das scheint jetzt gerade in der Tschechischen Republik anders zu sein.“

Die tschechische Feuerwehr richtete wegen der Verschärfung kurzfristig ein zusätzliches Coronavirus-Testzentrum ein. Es sollte ab Mitternacht in Pomezi nad Ohri vor dem Grenzübergang Schirnding (Bayern) zur Verfügung stehen, wie ein Sprecher bei Twitter mitteilte. Zielgruppe sind insbesondere Lkw-Fahrer.

EU-Kommissarin äußert Skepsis

Nur bedingt Verständnis für die Grenzschließungen zeigte zuletzt EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. „Die Furcht vor den Mutationen des Coronavirus ist verständlich. Aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten lässt“, sagte Kyriakides der „Augsburger Allgemeinen“. „Gegen die Mutationen helfen nur konsequentes Impfen sowie die Einhaltung der Hygiene-Regeln. Ich halte es für falsch, dass wir wieder zu einem Europa mit geschlossenen Grenzen wie im März 2020 zurückkehren“, so die 64-jährige christdemokratische Politikerin aus Zypern.

Noch vor dem Wochenende hatte die EU-Kommission versucht, Deutschland zumindest zu Ausnahmen für Pendler zu bewegen. Die Kritik der EU-Kommission hatte Seehofer allerdings bereits klar abblitzen lassen. „Die EU-Kommission sollte uns unterstützen und nicht durch wohlfeile Hinweise Knüppel zwischen die Beine werfen", so der deutsche Innenminister gegenüber der „Bild“-Zeitung.

Test und Quarantäne in Italien

Verschärfungen sind allerdings nicht allein auf die deutschen Grenzen beschränkt. Auch Italien schränkte die Einreise aus Österreich weiter ein. Reisende aus Österreich brauchen seit Sonntag einen negativen CoV-Test und müssen in Quarantäne. Der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza will mit der vorerst bis 5. März geltenden Verordnung die Verbreitung der Virusmutationen einschränken. Die italienische Verordnung könnte verlängert werden, sollten es die Umstände erfordern.

Die Maßnahmen gelten für jede Person, die sich für einen Zeitraum von mehr als zwölf Stunden in Österreich aufgehalten hat, also auch für Durchreisende. Vor der Einreise nach Italien muss ein negativer Test vorgelegt werden, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Innerhalb von 48 Stunden nach der Einreise in Italien müssen sich aus Österreich kommende Personen einem weiteren Test und einer 14-tägigen Quarantäne unterziehen. Danach müssen sie einen negativen Test vorlegen.

Ausreisekontrollen in Österreich

Kontrollen für Menschen, die aus Tirol ausreisen, gelten seit Freitag allerdings auch bei Reisen innerhalb Österreichs. Tirol darf nur verlassen, wer einen gültigen negativen CoV-Test mit sich führt. Auch am zweiten Tag der Kontrollen gab es dabei laut Polizei keine Schwierigkeiten. 355 Menschen wurde die Ausreise untersagt. Das waren rund 100 Menschen weniger als noch am Freitag – mehr dazu in tirol.ORF.at.