Friseurinnen demonstrieren in Dresden für ein Öffnen ihrer Geschäfte
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Pandemie und Emotion

Der Mut zur Wut

Die Coronavirus-Pandemie hat vielen Menschen das Gefühl gegeben, auf verschiedensten Ebenen ausgeliefert zu sein. Der Gefahr des Virus ebenso wie den Maßnahmen der Regierung. Die Hilflosigkeit produziere verständlichen Ärger, sagt die renommierte Therapeutin Verena Kast. Aber: Ärger und Wut machten uns vital. Die Wut sei gerade in der Situation kollektiven Ausgeliefertseins etwas Verständliches. Entscheidend sei, dass eine Gesellschaft in diesem Gefühl „nicht bade“. Wut könne kippen. Doch am Anfang habe Wut noch etwas sehr Vitales.

Das Coronavirus und die Pandemie haben das auf Optimismus gepolte Weltbild einer Gesellschaft ins Wanken gebracht. „Diese Pandemie ist natürlich eine ungeheure Herausforderung“, sagt die renommierte Schweizer Psychologin und Lehrtherapeutin Verena Kast in einem langen Gespräch mit ORF.at. Uns werde als Gesellschaft klar, so Kast, dass wir „sterblich sind“: „Das hatten wir natürlich schon immer gewusst, aber wir können das ja immer von uns wegschieben.“ „Sterben“, so Kast überspitzt, „das tun die anderen, nicht wir.“

Jetzt sei das Gefühl der eigenen Sterblichkeit sehr nahe an uns herangekommen. „Wir haben bis jetzt immer den Eindruck gehabt, wir können alles kontrollieren. Das hat natürlich nicht gestimmt. Aber dennoch waren wir der Ansicht, wir hatten ganz vieles in der Kontrolle, und man kann die Sachen eben wieder reparieren und so weiter. Und jetzt ist das plötzlich nicht mehr da“, erläutert Kast den Zustand der kollektiven Verunsicherung, der die Erfahrungen in verschiedenen Ländern eine.

Verena Kast über die Hintergründe der existenziellen Verunsicherung

Verena Kast im Skype-Gespräch mit ORF.at über die Gründe, warum viele Menschen im Moment durch die Pandemie verunsichert sich: „Sterben, das tun immer die anderen, nicht wir.“

Die Wut, die ja auch aus einer Hilflosigkeit und Kränkung resultiere, sei da nur zu verständlich – und bis zu einem gewissen Grad plädiert die Bestseller-Sachbuchautorin Kast auch dafür, die Wut zuzulassen und als etwas beinahe „Gesundes“ anzusehen: „Es ist ja eine bedrohliche Situation, gegenüber der wir hilflos sind. Wir waren schon immer in Situationen hilflos, aber diesmal ist es eine kollektive Erfahrung.“

„Wir suchen natürlich einen Schuldigen“

Eine Möglichkeit, die Hilflosigkeit abzuwehren, sei, dass man wütend und ärgerlich reagiere. „Wir suchen dann natürlich einen Schuldigen, wir suchen dann einen Sündenbock oder wir suchen Sündenböcke“, so Kast, die dann diese Suche auch als ein Kollektivphänomen betrachtet, weil man entdeckte, dass andere dasselbe täten. Dennoch sei die Wut oder ein „mittlerer Ärger“ noch ein Gefühl, mit dem man sich sehr vital fühle. Erst wenn man Angst habe, sei man in sich gekehrt und verliere Energie – „infolgedessen ist das Wütend-Sein auch körperlich eine Möglichkeit, sich eben nicht so hilflos zu fühlen“.

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen Ende Jänner in Wien. Transparent mit „Gehts scheissen“-Schild
Klaus Titzer / picturedesk.com
„Wir suchen natürlich einen Schuldigen und Sündenböcke.“ Hier Bilder aus Wien, Ende Jänner.

Das Zurückgeworfen-Werden auf sich selbst sieht Kast auch als eines der großen Themen zum Gefühlshaushalt in der Pandemie. Das Schwierige der momentanen Situation ist die Unklarheit der zeitlichen Perspektive, wann man aus der Pandemie rauskomme. Und, so erinnert Karst an eine weitere neue Erfahrung für die Gesellschaft: „Wir sind schlecht darin, Krisen auszuhalten, wo wir etwas verlieren. Wo wir – eigentlich sind, wir sind nicht daran gewöhnt, dass wir etwas verlieren, sondern immer daran, dass wir etwas gewinnen.“

Schwierige und verständliche Lage

Die jetzige Situation in der Pandemie versetze Menschen in eine schwierige wie verständliche Lage, so Kast: „Wir verlieren, wir müssen traurig sein, wir wissen nicht, wie lange es geht, wir wissen nicht, was es uns persönlich dann noch ausmacht.“ Diese jetzige Krise wirke sich fundamental auf die Existenz aus – Angst sei hier nicht nur eine Fantasie oder Projektion, jetzt gehe es um sehr reale Situationen. Menschen seien gezwungen, das Bild von sich selbst zu korrigieren, etwa jene, die von sich gedacht hätten: „Ich kriege doch sonst immer alles hin, warum schaffe ich das jetzt nicht mehr?“ Das führe dazu, dass man momentan viel mehr Depressionen quer durch alle Altersstufen diagnostiziere.

Kast Buch über den Sinn des Ärgers
Herder Verlag
Verena Kast: Vom Sinn des Ärgers. Herder, 256 Seiten, 9,99 Euro.

Was Kast mit ihrer langen Erfahrung aber in der jetzigen Situation interessiert, ist der Weg hinaus aus der Krise. Sie erlebe gerade viele Therapeutinnen und Therapeuten, die Menschen betreuen, die ihre Aggressionen auf andere projizierten. Für Kast ist ein Gespräch wichtig, auch das Signal, dass man verstehen könne, warum jemand eine gewisse Situation mit seiner eigenen Deutung erlebe. Dann gebe es aber die Punkte zu finden, an denen man Stellschrauben drehen und etwas verändern könne. Und wichtig sei, dass man neben dem Verständnis auch die andere Sicht auf die Dinge kommuniziere.

„Ich sehe es anders“

„An einem gewissen Punkt muss ich sagen, ich sehe es anders; dass Sie es so sehen, aber ich sehe es anders. Und dann würde ich stark auf die Ebene gehen, wo man was verändern kann“, so Kast. Natürlich gebe es Menschen, die grundsätzlich fänden, dass es ihnen schlecht ginge – „aber an die kommt man ohnedies nicht ran“.

Gerade jetzt empfiehlt Kast, auf einen Grundsatz der therapeutischen Arbeit zurückzugreifen und mit positiven Emotionen zu arbeiten. Sie greife auf den Sanskritausdruck des „Kamamuta“ zurück, der ein positives Berührt-Werden ausdrücke und den Moment beschreibe, wenn einen positive Gefühle überwältigten.

„Wir können das Schlechte nicht einfach wegreden oder dieses Virus wegdiskutieren. Aber wir können uns innerlich etwas mehr ausbalancieren, und das funktioniert mit positiven Emotionen“, ist sich Kast sicher.

„Gefühle stören, wenn wir sie nicht zulassen“

„Unsere Gefühle stören dann, wenn wir sie nicht zulassen“, so Kast: „Wenn wir sie zulassen, wenn wir die Angst zulassen, wenn wir den Ärger zulassen, wenn wir die Wut zulassen, dann geht es wieder vorwärts. Wir müssen nicht baden drinnen, aber wir sind am Ende doch Menschen, die sich leicht berühren lassen.“

Das, was oft im Wege stehe, sei das Ausblenden der Gefühlsebene. Gerade jetzt müsse man eben nicht so tun, als wäre man „cool“. Manchmal entstünde gerade in Zeiten des Coronavirus bei einem Spaziergang auf Abstand etwas Berührendes zwischen Menschen, die sich auch überhaupt nicht davor gekannt hätten. Solche Begegnungen, so Kast, müsse man im Moment sammeln: „Mit Corona ist auch etwas sehr Sensibles, Sensitives entstanden. Und das finde ich, ist sehr gut.“