Hauptplatz von Bad Gleichenberg
ORF/Martin Gerhartl
Ein Jahr Coronavirus-Krise

Die neue Welt am Beispiel Bad Gleichenberg

Kaum etwas ist wie davor: Seit einem Jahr hat das Coronavirus die Menschheit im Griff. Wie durch ein Brennglas sieht man das etwa an Bad Gleichenberg, einer steirischen Tourismusgemeinde und Schulstadt, in der eine Covid-19-Rehaklinik eingerichtet wurde. Der Alte wird er nicht mehr werden, sagt einer der Patienten. Das gilt in gleichem Maße für die Gesellschaft. Doch man hört auch optimistische Töne.

8.289 Menschen sind seit Anfang März des vergangenen Jahres (Stand Dienstag) in Österreich an oder mit dem Coronavirus verstorben. Zeitweise war ein Drittel der Intensivbetten in Spitälern mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten belegt. Laborbestätigte Fälle von Erkrankungen gab bzw. gibt es in Summe 442.863.

Einer von ihnen ist Karl Cvörnjek, der das Schlimmste schon hinter sich hat – obwohl ihm das Sprechen manchmal noch immer schwerfällt. Stets muss er bewusst auf die richtige Atmung achten. Schafft er es nicht, verkrampft sich seine Lunge und er muss husten. Ein mobiles Sauerstoffgerät pumpt Luft in seine Nase. Ohne diese technische Hilfe wäre das Sprechen zu anstrengend für ihn.

„So schlecht beinander“

Der 55-jährige Steirer erholt sich in Bad Gleichenberg von den Folgen einer schweren Coronavirus-Erkrankung mit knapp zwei Monaten im Krankenhaus. „Das Schönste für mich war, als ich es aus eigener Kraft geschafft habe, auf den Leibstuhl zu gehen, mich selbst sauberzumachen und dann wieder zurück ins Bett.“ 45 Minuten hat er dafür gebraucht – „weil es schneller nicht geht, so schlecht bist du beinander“. Dabei war er vor dem Coronavirus „eigentlich pumperlgsund“, wie er sagt.

Bad Gleichenberg: Ein Jahr in der Krise

Ein Jahr lang Coronavirus-Krise – gezeigt am Beispiel Bad Gleichenberg. Die Schulen standen leer, die Reisebusse in der Garage – und das Klinikum wurde zur Covid-19-Rehastation

Sechs Wochen auf der Intensivstation

Der Unternehmer erkrankte im Oktober 2020 am Virus, obwohl er immer vorsichtig gewesen sei und alle Menschen stets nur im Freien getroffen habe, außer das eine Mal, als es regnete. Das eine Mal reichte aus, um sich anzustecken. Was als Husten begann, endete mit sechs Wochen Intensivstation im LKH Graz und beinahe mit dem Tod.

Zwei Wochen lang wurde Cvörnjek künstlich beatmet, aber nicht intubiert. „Die Ärzte waren sehr ehrlich und haben mir zu einer Atemmaske geraten, sofern ich die aushalte“, erzählt der Familienvater. Die Maske presste so stark auf seine Haut, dass er Fleischwunden im Gesicht bekam. Aber sie steigerte seine Überlebenschancen, weil sie ihm den künstlichen Tiefschlaf ersparte.

29 Kilogramm abgenommen

Cvörnjek blieb bei vollem Bewusstsein und bekam alles mit: Wie ihm seine Familie und Freunde Fotos und Durchhalteparolen aufs Handy schickten, während andere neben ihm auf der Intensivstation starben. Seiner Frau wurde geraten, Sterbebegleitung in Anspruch zu nehmen. Doch schließlich überlebte Cvörnjek. 29 Kilo nahm er ab, seine körperliche Verfassung ist laut eigenen Angaben katastrophal.

Covid-19-Überlebender Karl Cvörnjek
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Der 55-jährige Karl Cvörnjek hätte Covid-19 beinahe nicht überlebt

Selbst Marathonläufer ohne Atem

„Wir hatten hier schon Marathonläufer, die es nach ihrer Erkrankung nicht mehr schafften, ein oder zwei Stockwerke hinaufzugehen“, erzählt Karl Horvath, ärztlicher Leiter des Klinikums Bad Gleichenberg. Das Rehaprogramm hat im Klinikum im Juni, nach dem ersten Lockdown, begonnen. Das Haus ist spezialisiert auf die Therapie von Lungenkrankheiten.

Ein Drittel der 150 Betten ist mittlerweile mit Post-Covid-19-Patienten und -Patientinnen belegt, Tendenz steigend. Der jüngste Patient war gerade einmal 30 Jahre alt, der älteste 86. Wie schwer die Symptome sind, sei völlig unterschiedlich, sagt Horvath: „Manche sind so stark betroffen, dass sie sogar bei vermeintlich einfachen Tätigkeiten wie Zähneputzen außer Atem kommen und Sauerstoff brauchen.“

TV-Hinweis

Eine längere Reportage aus Bad Gleichenberg ist am Dienstag um 21.05 Uhr in ORF2 im „Report“ zu sehen.

Touristen und Schülerinnen fehlen

Die wirtschaftlichen Folgen für die 5.300-Einwohner-Gemeinde sind enorm: Die Zahl der Nächtigungen ist um ein Drittel gesunken – von 293.927 im Jahr 2019 auf 194.005 im vergangenen Jahr. Das spiegelt die Gesamtentwicklung in Österreich wider: Alleine in der Sommersaison verringerte sich die Zahl der Nächtigungen landesweit um 42,6 Prozent.

Der Kur- und Schulort Bad Gleichenberg im steirischen Vulkanland
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Der Kur- und Schulort Bad Gleichenberg im steirischen Vulkanland

Aber nicht nur die Touristinnen und Touristen fehlen. Durch das Distance-Learning fielen auch 1.200 Schülerinnen, Schüler und Studierende der Tourismus- und Fachhochschulen weg. Der quirlige Kur- und Schulort war plötzlich wie ausgestorben. Der Hauptplatz liegt bis heute im Winterschlaf.

„Uns wird es nicht treffen“

„Vor dem ersten Lockdown waren wir noch der Meinung: Uns in Bad Gleichenberg wird das nicht treffen“, erinnert sich Bürgermeisterin Christine Siegel von der ÖVP. Ähnlich wie im Bund regierte auch sie damals mit einer grünen Vizebürgermeisterin. Bei den Gemeinderatswahlen im Sommer hat die ÖVP dann die absolute Mehrheit eingefahren.

Im Herbst gab es einen größeren Ausbruch in einem Seniorenheim. Jetzt sind die Zahlen stabil niedrig, zuletzt mit rund vier Neuinfektionen am Tag. In den Pflegeheimen sei die Impfung schon abgeschlossen, doch die Bevölkerung sei wie vielerorts müde geworden. „Ausgebrannt“, wie es die Ortschefin nennt, „weil es einfach schon so lange dauert und das persönliche Miteinander fehlt. Von einigen höre ich schon: Ich bin einsam. Ich bin allein.“

Bürgermeisterin Christine Siegel (ÖVP) von Bad Gleichenberg
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Christine Siegel regiert als ÖVP-Bürgermeisterin mit absoluter Mehrheit

Schleichende Vereinsamung

Gäste und Geselligkeit fehlen, besonders der Familie Wolf. Sie betreibt ein Reisebusunternehmen samt Buschenschank im benachbarten Trautmannsdorf. Jahrelang hat Manfred Wolf die Kurgäste mit einem eigenen Shuttlebus ins Lokal und wieder zurück chauffiert. Zwischen Brettljause, Apfelsaft und Uhudler gab es Livemusik. Die Schenke war gut gefüllt.

Jetzt ist alles anders, seit dem Nationalfeiertag hat die Schenke zugesperrt. Viele Stammgäste sind älter als 80 Jahre und gehören zur Hochrisikogruppe, erzählt Martina Wolf. Sie weiß von zumindest zwei Gästen, die am Virus verstorben sind. Viele verlassen kaum noch das Haus, aus Angst, sich anzustecken.

Leere Heurigenschenke
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Wo früher heitere Heurigenpartien saßen, sammelt sich heute der Staub

95 Prozent Umsatzrückgang

„Manche schreiben uns immer wieder Briefe“, schildert Manfred Wolf. Sein Vater hat das Busunternehmen Wolf Reisen 1965 gegründet. Der Sohn hat 1999 übernommen und die Flotte auf sechs Busse ausgebaut. Die Gruppenfahrten führen von Lourdes über Italien bis zum Neusiedler See. Oft enden sie in der Heurigenschenke. Doch seit dem Herbst steht alles still.

Die gesamte Branche mit ihren rund 800 Reisebusunternehmern und 5.500 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wurde österreichweit hart getroffen. Vertreter sprechen von einem Umsatzrückgang von 95 Prozent. Ein guter Reisebus kostet 350.000 bis 400.000 Euro und hält durchschnittlich sechs Jahre. „Die Kosten laufen natürlich weiter, die Busse werden älter, die Leasingraten sind fällig“, sagt der 56-Jährige.

Den Fixkostenzuschuss I und einen Überbrückungskredit habe er zwar erhalten, doch die Rückzahlungsraten starten im Frühling. Ob dann die Reisebusse wieder rollen, ist mehr als fraglich. „Wahrscheinlich erst mit der Impfung“, glaubt Wolf.

Busunternehmer-Familie Wolf vor Reisebussen
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Familie Wolf kann sich die Erhaltung der stillstehenden Reisebusse nicht mehr lange leisten

Schichtbetrieb in den Tourismusschulen

Bei Familie Wolf soll der Sohn den Betrieb einmal übernehmen. Nächstes Jahr beginnt er die Ausbildung an einer der Tourismusschulen in Bad Gleichenberg. Die privaten Schulen sind die einzigen, bei denen wieder eine Art Normalität herrscht: Vergangenen Montag sind 240 Schüler und Schülerinnen auf den schuleigenen Campus mit Internat zurückgekehrt.

Der Unterricht findet vorerst wochenweise im Schichtbetrieb statt. Stefanie Stenitzer ist dennoch froh: Die Maturantin hat die letzten vier Jahre mit ihren Klassenkollegen und Kolleginnen zusammengelebt und gelernt, bis sie der Lockdown trennte.

Tourismusschulen Bad Gleichenberg
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Durch Distance-Learning und Homeschooling stehen die Tourismusschulen seit Monaten fast leer

Matura mit Fragezeichen

Es sei nicht einfach gewesen, sich den Stoff selbst beizubringen, erzählt die 18-Jährige, die im Mai zur Matura antritt. Dazu kommt die Unsicherheit: „Wer weiß, wenn die Zahlen wieder steigen, ob das überhaupt wie geplant stattfinden kann.“ Sollte alles klappen, will sie im Herbst erst einmal studieren. Und jetzt einen Job im Tourismus zu finden? Die Schülerin nennt das „sicher eine Herausforderung.“

Schulleiter Peter Kospach ist optimistischer: Schon im ersten Coronavirus-Sommer 2020 habe es keine Probleme gegeben, alle Schüler und Schülerinnen seien erfolgreich vermittelt worden. Auch jetzt ist er zuversichtlich. Eine rasche Öffnung der Gastronomie würde freilich helfen.

Hoffen auf Öffnung mit Tests

Das fordert auch Bürgermeisterin Siegel. Sie plädiert für eine sanfte Öffnung mit Eintrittstests. Wenn es nach ihr geht, könnten die Tests auch etwas kosten. Die Menschen würden sich danach sehnen, wieder gemütlich gemeinsam im Kaffeehaus oder in der Buschenschank zu sitzen. Auch Hotels sollten mit entsprechenden Sicherheitskonzepten bald wieder öffnen dürfen.

Leerer Schanigarten mit Sitzgruppe
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Viel Hoffnung setzen die Bad Gleichenberger in die Öffnung ihrer Schanigärten

„Werde nie mehr der Alte werden“

Im Klinikum Bad Gleichenberg beobachtet Patient Cvörnjek die Öffnungsdebatte mit Skepsis: „Ich habe absolutes Verständnis dafür, dass die Leute diesen Wunsch nach Normalität haben. Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Aus Jux und Tollerei macht die Regierung den Lockdown und diese Vorschriften ja nicht.“ Der 55-Jährige wird morgen nach vier Wochen Therapie aus der Reha-Klinik entlassen. Falsche Hoffnungen hegt er keine: „Zu viel in meiner Lunge ist geschädigt. Von dem Gedanken, dass ich wieder der Alte werde, habe ich mich verabschiedet.“