Rettungswagen mit medizinischem Personal in Schutzkleidung
Reuters/David W Cerny
Tschechien und CoV

Vom Vorreiter zum Sorgenkind

Zu Beginn der Coronavirus-Krise hat Tschechien als Vorreiter im Kampf gegen das Virus gegolten – von dem ist ein Jahr später nichts mehr zu spüren. Österreichs Nachbarland ist trotz monatelangen Lockdowns zum CoV-Hotspot Europas geworden, auch weltweit liegt es in puncto Infektionszahlen ganz weit vorn. Die Lage in den Spitälern ist angespannt, das Vertrauen in die Regierung bröckelt.

Dass es langsam eng wird, verdeutlichte am Dienstag der stellvertretende Gesundheitsminister Vladimir Cerny. Derzeit sind mehr als 6.500 Covid-19-Patienten und -Patientinnen in den tschechischen Krankenhäusern in Behandlung. Von ihnen müssen mehr als 1.300 intensivmedizinisch behandelt werden. Noch sind 15 Prozent der Betten frei – in zwei bis drei Wochen könnten es weniger als fünf Prozent sein, so Cerny. Größtes Problem ist der Mangel an qualifiziertem Gesundheitspersonal.

In einer solchen Situation sei das Land noch nie gewesen, betonte der Medizinprofessor Cerny auch. Tschechien habe begonnen, über mögliche Hilfe aus dem Ausland zu verhandeln. Aus Deutschland liege ein Angebot zur Übernahme von neun Intensivpatienten vor. Zudem sollen weiter Patientinnen und Patienten innerhalb Tschechiens in weniger stark betroffene Gebiete umverteilt werden.

Abgeriegelte Grenzgebiete, neue Hotspots

Mit 1.052 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern innerhalb von 14 Tagen steht Tschechien EU-weit an der Spitze, wie aus den Daten des Covid-19 Data Hub von Montag hervorgeht. Mit rund 182 Toten je 100.000 Einwohnern liegt Tschechien auch bei den Todeszahlen im Spitzenfeld – in Europa, aber auch weltweit. Insgesamt 10,7 Millionen Menschen leben in Österreichs Nachbarland.

Und eine Besserung ist nicht in Sicht: Am Dienstag meldeten die Behörden erneut deutlich über 11.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden – das sind etwa 2.300 mehr als noch vor einer Woche. Die Reproduktionszahl liegt bei fast 1,18 – das bedeutet, dass pro Fall statistisch mehr als eine weitere Neuansteckung ausgelöst wird. Was die Anzahl an Impfungen betrifft, liegt Tschechien auf einem ähnlichen Niveau wie Österreich: 5,09 Prozent der Bevölkerung haben laut der Impfstatistik von Our World in Data mindestens eine Impfdosis erhalten, in Österreich sind es 5,64 Prozent (Stand: Montag).

Hoch sind die Infektionszahlen zwar im ganzen Land, als Hotspots gelten inzwischen aber der Bezirk Tachov (Tachau), der zur an Deutschland grenzenden Region Pilsen gehört, sowie der Bezirk Nachod, der in der an Polen grenzenden Region Hradec Kralove liegt. Angespannt ist die Lage aber auch nach wie vor noch in den drei von der Regierung Mitte Februar isolierten Grenzbezirken Sokolov (Falkenau), Cheb (Eger) sowie Trutnov (Trautenau).

Polizeikontrolle nahe Karlovy Vary (Karlsbad)
Reuters/David W Cerny
Ausreisen aus den drei isolierten Grenzregionen sind mit wenigen Ausnahmen nicht erlaubt, die Kontrollen sind streng

Rasche Ausbreitung von B.1.1.7

Als einen wesentlichen Grund für die prekäre Lage sehen Fachleute die rasante Ausbreitung der erstmals in Großbritannien festgestellten Virusvariante B.1.1.7. Der Mathematiker und Vorsitzende des tschechischen Instituts für die Modellierung von Biologischen und Gesellschaftlichen Prozessen (BISOP), Rene Levinsky, vermutet gegenüber dem Rundfunksender Czech Radio am Montag, dass bereits zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung mit B.1.1.7 infiziert sein könnten.

Die Regierung habe zu lasch reagiert, kritisierte er. „Wir haben den Kampf gegen die britische Mutation verloren“, so Levinsky. Lockerungswünsche der Regierung – etwa eine partielle Öffnung der Schulen Anfang März – sieht er kritisch und plädierte vielmehr für eine Verschärfung der Maßnahmen. Auch der tschechische Gesundheitsminister Jan Blatny hielt es vergangene Woche für wahrscheinlich, dass weitere Regionen aufgrund von B.1.1.7 in einen noch härteren Lockdown wechseln müssen.

Notstand verlängert: Babis gegen Parlament

Dabei gilt bereits seit Oktober der Notstand, den die Regierung von Premier Andrej Babis Mitte Februar – gegen den Willen des Parlaments – bis Ende des Monats verlängern ließ. Im Land gelten damit weiterhin Ausgangsbeschränkungen und eine nächtliche Ausgangssperre sowie eine Maskenpflicht im Freien und in Innenräumen. Geschäfte des nicht alltäglichen Bedarfs, Restaurants und Hotels sind geschlossen. Zudem besteht ein weitgehender Einreisestopp.

Der Start einer verschärften FFP2-Maskenpflicht an stark frequentierten Orten wie Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln wurde unterdessen auf Donnerstag verschoben. Sie hätte eigentlich bereits am Montag in Kraft treten sollen. Doch in vielen Apotheken und Geschäften waren die Masken vorübergehend ausverkauft. Überdies einigten sich Regierung und Opposition zuletzt auf die Grundzüge eines neuen Pandemiegesetzes. Die neuen Bestimmungen sollen CoV-Maßnahmen ermöglichen, ohne dass dafür der nationale Notstand ausgerufen werden muss. Laut „Politico“ werden damit auch die Befugnisse Babis’ beschränkt.

Geschlossene Geschäfte in Prag
AP/CTK/Milos Ruml
Geschäfte sind seit Monaten lockdownbedingt geschlossen, ebenso Restaurants und Hotels

Kritik an Schlingerkurs der Regierung

Die Kritik am Kurs der Regierung nimmt indes weiter zu – das Vertrauen der Bevölkerung hingegen ab. Der renommierte Epidemiologe Rastislav Madar, der die Regierung bis vor wenigen Monaten im Umgang mit dem Virus beriet, kritisierte gegenüber „Politico“ unter anderem, dass Babis die CoV-Maßnahmen vor Weihnachten verfrüht lockerte und damit Feierlichkeiten und Weihnachtseinkäufe ermöglichte.

Die Entscheidung habe zu einem rasanten Anstieg an Neuinfektionen Mitte Jänner geführt, als sich die Virusvariante B.1.1.7 schon in einigen Regionen deutlich ausbreitete. Einen Fehler habe die Regierung auch im August begangen: Damals habe sie einen Vorschlag einer Gruppe rund um Madar verweigert, wonach in Innenräumen eine Maskenpflicht eingeführt werden solle. Madar glaubt, die Regierungsspitze habe damit negatives Feedback der Bevölkerung im Vorfeld der Regionalwahlen vom Oktober 2020 vermeiden wollen.

Für Verwirrung sorgt überdies der Zickzackkurs der Regierung: So hatte Industrieminister Karel Havlicek zuletzt die Öffnung der Geschäfte trotz hoher Infektionszahlen ankündigt – obwohl Babis Mitte Jänner eine Lockerung der Maßnahmen an einen deutlichen Rückgang der Neuinfektionen – auf „maximal 1.000 oder 2.000 pro Tag“ – geknüpft hatte. Havlicek verwarf den von Fachleuten heftig kritisierten Vorstoß.

Chaotische Kommunikation und geringes Vertrauen

Empörung löste in der Vorwoche überdies der Pandemie-Regierungsberater Roman Prymula aus. Am Donnerstagabend wurde er beim Europa-League-Spiel zwischen Slavia Prag und Leicester City auf der VIP-Tribüne gesehen. Kurz zuvor hatte der Epidemiologe in Interviews einen zweiwöchigen Komplettlockdown gefordert. Das wirke unglaubwürdig, erklärte Babis und beendete die Zusammenarbeit mit dem Ex-Gesundheitsminister.

Der tschechische Premier Andrej Babis
AP/CTK/Vit Simanek
Regierungschef Andrej Babis muss um seine Wiederwahl im Herbst zittern

Mangelndes Vertrauen in Fachleute sowie chaotische Kommunikation sind für den Politologen Petr Just von der Metropolitan University Prague jedenfalls die „größten Fehler der Regierung“, wie er gegenüber Politico sagte. „Die Gesellschaft ist gespalten, erschöpft, verärgert und viele sind nicht in der Lage, ihre Wut und Enttäuschung zu verbergen“, sagte Madar auch.

Auch in den Umfragen schlägt sich das nieder: Im Zuge einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gaben 76 Prozent der Befragten Tschechen an, der Regierung bei der Pandemiebekämpfung nicht zu vertrauen. 46 Prozent sagten sogar, dass sie trotz CoV-Symptomen nicht zu Hause bleiben würden.

Vor Wahl: Zustimmung für Babis-Partei gesunken

Für Babis kommt all das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, finden doch im Oktober 2021 die Parlamentswahlen statt: Laut Umfragen von vergangener Woche würde die tschechische Protestbewegung ANO von Babis die Parlamentswahlen erstmals nach mehreren Jahren nicht mehr gewinnen. Laut der Befragung des Prager Meinungsforschungsinstituts Kantar CZ würde nun das Wahlbündnis von Piraten und der Bürgermeisterpartei (STAN) mit 29,5 Prozent von Stimmen stärkste Kraft werden.

ANO auf Platz zwei könnte mit 26,5 Prozent rechnen, gefolgt von dem Wahlbündnis „Spolu“ („Gemeinsam“) aus der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS), der liberalen TOP 09 und der christdemokratischen Volkspartei (KDU-CSL) mit insgesamt 19,5 Prozent. Die jetzt mitregierenden Sozialdemokraten (CSSD) würden mit nur vier Prozent den Einzug ins Abgeordnetenhaus nicht schaffen.