Daniel Wisser
Nurith Wagner-Strauss
Neuer Daniel Wisser

Emojis, Tabus und Politik

Ein Familienroman mit pikanter Lovestory, eine Studie über die Verfasstheit der SPÖ und eine Persiflage auf moderne Kommunikationsmethoden: Daniel Wissers neuer Roman „Wir bleiben noch“ ist das alles in einem und gleichzeitig ein leichtfüßiges und unterhaltsames Stück österreichischer Mentalitätsgeschichte. Worin ihm der Protagonist Victor ähnelt, verriet der Autor gegenüber ORF.at.

Am Anfang von „Wir bleiben noch“ stand für ihn der lang gehegte Plan eines Familienromans, erzählte Wisser, und die Frage, wie man das Genre „in unsere Zeit, in unsere Kommunikationsmethoden transferieren kann“. Was Wisser eindeutig nicht wollte, war, einen klassischen Schmöker zu schreiben, eine aus allwissender Perspektive erzählte Dreigenerationensaga, so Wisser gegenüber ORF.at. Die Form gilt heute als altmodisch, „anstrengend“ und „von vorgestern“.

Liebesgeschichten und Heiratssachen, Zwist und Zoff und Begräbnisse – in „Wir bleiben noch“ ist alles da: Der Roman spielt lustvoll auf der Klaviatur des Trivialen und packt die (mit Politik versetzte) Chronik der laufenden Ereignisse in eine ungewohnte Form. Die Handlung, die 2018 und 2019 spielt, ist gespickt mit Chatverläufen. Und Wisser hat in eigenen Worten auf die „Verallgemeinerung einer Geschichte, das Behaupten einer Faktizität“ verzichtet, indem er nur partiell, mittels Anekdoten, von der Vergangenheit erzählt.

Victor, 47, Sozialdemokrat

Der Mann, der im Zentrum des Romans steht, liebt nämlich familiäre und historische Geschichten über alles: Victor Jarno ist 47 und der letzte gestandene Sozialdemokrat einer traditionsreichen sozialistischen Familie. Victor, benannt ist er nach dem Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler, ist dabei mitnichten ein kämpferischer Proletarier, sondern ein Grundgutmütiger, ein „ganz ein Lieber“ und nicht zuletzt ein großer Traditionalist.

Victor Adler
picturedesk.com/Imagno/Austrian Archives
Nabensgeber für Wissers Protagonisten ist Victor Adler, der 1889 die sozialdemokratischen Gruppen zur Arbeiterpartei vereinte

Während sich der Großteil der Familie von der Partei abgewendet hat und inzwischen auf „die Ausländer“ schimpft, versucht Victor das Familienerbe mittels erzählter Geschichten hochzuhalten – nicht zuletzt zum Ärgernis seiner langjährigen Freundin Iris, die ihm vorwirft, ein „alter Mann im jungen Körper“ zu sein. Die Trennung kündigt sich schon auf den ersten Seiten an, ein verzweifelt gehegter, unerfüllter Kinderwunsch war nur noch das letzte Bindeglied. Und dann geht es erst so richtig los in „Wir bleiben noch“.

Beim 99. Geburtstag der „Urli“, den die Familie in ihrem Landhaus im niederösterreichischen Heiligenbrunn feiert, treffen nicht nur Tante, Mutter und Enkelkinder ein, sondern auch Victors Cousine und heimliche Jugendliebe, die schöne Caroline. Nach vielen Jahren als Ärztin in Finnland ist sie nach Österreich zurückgekehrt. Ganz ohne Umschweife – und aus ihrer beider Sicht dreißig Jahre zu spät – fallen sich Cousin und Cousine in die Arme. Die Familie ist heftig verstört.

Politikum Cousinenliebe?

Wisser, 1971 in Klagenfurt geboren und seit 1989 in Wien lebend, ist bekannt dafür, Gesellschaftspolitisches mit viel Leichtigkeit und Feingefühl zu verhandeln, zuletzt in seinem tragikomischen Roman „Königin der Berge“, für den er 2018 den österreichischen Buchpreis erhielt.

Buchcover von Daniel Wisser
Luchterhand Literaturverlag
Daniel Wisser: Wir bleiben noch. Luchterhand, 480 Seiten, 22,70 Euro.

Kommt nach dem Tabu Sterbehilfe jetzt das Tabu Cousinenliebe? Jein. Für Wisser ist das Thema nur insofern interessant, weil es für Victor zum Gradmesser wird, „wie weit man zu dem stehen kann, was man denkt und fühlt, welche Konsequenzen man zieht“, so Wisser. „Diese Ehrlichkeit hat einen durchaus hohen Preis.“

Das eigentliche Politikum von „Wir bleiben noch“ ist dagegen die daniederliegende Sozialdemokratie, der Wisser weniger in Form einer ziselierenden Ursachenforschung zu Leibe rückt. Er wirft vielmehr Schlaglichter auf die Höhen und Tiefen der Partei, von den Ziegelarbeitern auf dem Wienerberg über die „SPÖ-Bonzen“ in den 50er Jahren im Wiener Magistrat bis hin zum gegenwärtigen Zustand.

Hohe Emoji-Dichte

Dass es neben diesen gut gesetzten, kompakten Schilderungen ganz schön trivial und ausufernd zugehen kann, dafür sorgen seitenweise Chatprotokolle. Denn Victor pflegt zwar einen amüsanten Kulturpessimismus mit Handy- und Chathass, ist aber dennoch ein sehr gewiefter Emoji-Setzer und schickt seiner Freundin sogar vom Zimmer nebenan noch Nachrichten.

Die hohe Dichte an Belanglosigkeiten, Liebesbekundungen und Herzsymbolen ist bisweilen auch enervierend – nicht ohne Grund. Er wollte damit, so Wisser, „die neue Aufmerksamkeitsökonomie und damit unsere Sicht, alles als Timeline zu sehen“, literarisch umsetzen.

Ein neues Biedermeier

„Wir bleiben noch“ aber ist aber vor allem auch ein Roman über die Suche nach einem gelingenden Leben, zumal in einer, aus Sicht des SPÖ-Veteranen, im Niedergang begriffenen Welt. Das vielzitierte „richtige Leben im falschen“ sucht Victor, indem er schließlich mit Caroline nach dem Tod der Großmutter in ihr Haus nach Heiligenbrunn zieht.

Wollen sie sich dort in den Ort integrieren oder doch lieber einem neuen Biedermeier frönen? Gelingt es ihnen, das Vorhaben, große Romane und sozialistische Klassiker zu lesen, tatsächlich umzusetzen? Lohnt sich ihr Rückzug aus der digitalen Welt? Und wie kann eine Partnerschaft funktionieren, wenn es ohne Kind keine neue „Projektionsfläche“ gibt? Wie leben sie mit einer einnehmenden Vergangenheit, die sonst aber niemand mehr haben will?

Parallelen zum Autor

„Die Lage ist weder ganz hoffnungslos noch ernst“, so lässt sich Victors Sicht auf die Welt frei nach Alfred Polgar zusammenfassen. Der trockene Humor und die Schlagfertigkeit Victors sorgen bei all der verfahrenen familiären und politischen Situation für viel Leichtigkeit. Dass Wisser seinen Protagonisten gut kennt, spürt man dabei irgendwie, nicht nur, wenn man die Biografie des Autors liest.

Auch Wisser hat seinen früheren Brotberuf aufgegeben – übrigens, in seinem Fall, nach einem Gewinn bei der Millionenshow –, auch er hat, wie Victor, vor einiger Zeit sein Facebook-Konto gelöscht. Details nennt Wisser keine, aber nur so viel: Parallelen gebe es ganz bestimmt, wie er freimütig zu verstehen gibt. „Die Familienanekdoten sind Geschichten, die ich mich nicht zu erfinden trauen würde.“