Stone interpretiert die Figur der Violetta als Influencerin und die Liebesirrungen in dieser Oper als Effekte einer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft. Auf der Bühne von Bob Cousins dreht sich ein nach hinten offener LED-Würfel, der vorne das Screen-Geschehen unserer Gesellschaft, quasi die polierte Oberfläche, als WhatsApp-Dauerfeuer generiert – dazwischen blickt man schlaglichtartig in Gesellschaftsszenen voller Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit.
Hinweis
Die ganze „Traviata“ zum Nachschauen in tvthek.ORF.at
Gegen diese Konturierung singen Pretty Yende als Violetta und Juan Diego Florez als Alfredo Germont an. Ein wenig erdrückt wirken sie von den übergroßen Nachrichten auf den Displays. Dazwischen suggerieren Clips in Zeitlupe: Es geht um unser Antlitz und Abglanz, aber nicht den Menschen, der das Zentrum dieser Bilder sein könnte. Verwertung von Effekten, so eine weitere Lesart des digitalen Zeitalters, hat etwas Billiges. Eine wahre Erkenntnis, die leider auch den mit in Geiselhaft nimmt, der sie in Szene setzt. Und vielleicht ist das ja das Problem jeder zeitgenössischen Operninszenierung noch mehr als beim Regietheater auf der Sprechbühne. Irgendwann wir die Distanz zwischen Vorlage und Interpretation zum unüberwindbaren Graben (was jetzt nicht der historisierenden Inszenierung das Wort reden muss).
„La Traviata“ in der Wiener Staatsoper
Nicht nur das Stück „Heldenplatz“ des Salzburger Landestheaters feiert dieser Tage im Rahmen der ORF-III-Reihe „Wir spielen für Österreich“ TV-Premiere, sondern auch „La Traviata“ aus der Wiener Staatsoper. Die Inszenierung stammt von Simon Stone, der derzeit als einer der gefragtesten Opern- und Theaterregisseure gilt. Und Opernstar Juan Diego Flores singt erstmals die Rolle des Alfredo.
Das Schicksal der Liebe am Drehdöner
Und so findet die erste intime Szenen neben den Mistkübeln hinter der Dönerbude statt. Das ist drastisch, aber verträgt sich nicht immer mit dieser Oper, in der der frühe Verdi so ziemlich sein ganzes musikalisches Formen- und Einfallsrepertoire in Stellung bringt und die deshalb zu Recht den Status eines zeitlosen Klassikers einnimmt. Giacomo Sagripanti führt das Staatsopernorchester bei seinem Wien-Debüt präzise, aber doch ein wenig vorsichtig. Die Feierlichkeit, nicht der Schmiss, ist seine Sache.
Golovatenko als Katalysator
So braucht es schließlich den zweiten Akt und den Auftritt von Igor Golovatenko, der zuletzt als Marquis de Posa im „Don Carlos“ brillierte. Golovatenko bringt so viel stimmliche Präsenz auf die Bühne, dass die einen erwachen und die anderen auflockern. Yende wird an diesem Abend eine überzeugende Violetta präsentieren und wächst von Akt zu Akt.
Am Schluss darf man sich auch im Opernraum mit der Inszenierung anfreunden. Aus dem nüchternen weißen Krankenzimmer wird noch einmal der große, sich ewige drehende Screen-Würfel. Violetta steigt am Ende durch die Projektionswände in einen grellen weißen Raum. Es gibt also doch eine Erlösung von der Scheinwelt des Digitalen, könnte man Stone deuten. Und vielleicht ist diese Lektion eine von der Abstinenz.
Vieles ist, das kann man beim Nachsehen der Oper in tvthek.ORF.at erleben, auf eine 16:9-Ästhetik hin optimiert. Mit 16:9 haben die Formate der Influencer freilich wenig zu tun. Diesen Schritt ist Stone vielleicht auch auf sympathische Weise noch hinterher. Denn wäre es eine Instagram-Oper, die Traviata wäre im Videoformat quadratisch und ohnedies nach fünf Minuten vorbei: „#omg“.