Menschen ziehen durch das zerstörte Idlib in Syrien
AP/Felipe Dana
Idlib

Letzte Hochburg der Islamisten in Syrien

Nach zehn Jahren Krieg ist die Region Idlib die letzte Hochburg der Dschihadisten in Syrien. Verschiedenste islamistische Gruppen und andere Milizen kontrollieren fast die ganze Provinz an der Grenze zur Türkei sowie angrenzende Gebiete der Provinzen Aleppo, Hama und Latakia. Die Zukunft der Region, in der Hunderttausende Flüchtlinge leben, ist völlig ungewiss.

Stärkste Kraft ist Hajat Tahrir al-Scham (Dt.: Komitee zur Befreiung der Levante, HTS), früher der syrische Ableger des Terrornetzwerkes al-Kaida. HTS dominiert auch die zivile Verwaltung der Region, die „Regierung der Rettung“.

2,9 Millionen Menschen leben in dem Gebiet, zwei Drittel von ihnen sind laut UNO Vertriebene. Sie flohen aus anderen Rebellenhochburgen, als diese von den Regierungstruppen zurückerobert wurden. Mehr als eine Million von ihnen wohnt in improvisierten Lagern.

Teil der Hilfsgüter werde „konfisziert“

Durch mehrere Offensiven der syrischen Armee und ihrer russischen Verbündeten gegen Idlib verloren die Islamisten Territorium. „Jetzt kontrollieren sie 3.000 Quadratkilometer“, sagte der Politikwissenschaftler und Syrien-Experte Fabrice Balanche. „Im September 2017 waren es noch 9.000 Quadratkilometer.“ Trotz sporadischer Zusammenstöße profitiert die Region seit März 2020 von dem von Moskau und Ankara ausgehandelten Waffenstillstand.

Die von den Vereinten Nationen und der EU als terroristisch eingestufte HTS zählt laut einem UNO-Bericht etwa 10.000 Kämpfer, meist Syrer. Die Dschihadistengruppe kontrolliert den Treibstoffhandel und verdient damit dem Bericht zufolge etwa eine Million Dollar monatlich. Auch über die Verteilung der humanitären Hilfe wache HTS. Ein Teil der Hilfsgüter werde „konfisziert, um das Netzwerk ihrer Günstlinge zu stärken“, heißt es in dem Bericht.

Kämpfe unter dschihadistischen Gruppen

Die dschihadistischen Gruppen in Idlib bekriegen sich auch untereinander. Gegenspieler von HTS ist unter anderen Hurras al-Din (Dt.: Wächter der Religion), ebenfalls ein syrischer Ableger von al-Kaida mit laut UNO etwa 2.000 bis 2.500 Kämpfern. Eine weitere Gruppierung ist die Islamische Turkestan Partei, deren Anhänger meist aus der uigurischen muslimischen Minderheit in China stammen. Sie hat rund 3.000 bis 4.500 Kämpfer.

Tausende Ausländer, darunter viele Franzosen, Briten und Tschetschenen, kämpfen auf der Seite der Islamisten, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet. Auch von der Türkei finanzierte, ebenfalls islamistische Milizen operieren in Idlib. Die Beobachtungsstelle hat ihren Sitz in Großbritannien. Sie gilt als gut vernetzt und der syrischen Opposition nahestehend. Ihre Angaben sind allerdings meist kaum überprüfbar.

3,6 Millionen in die Türkei geflüchtet

Ankara will auf jeden Fall verhindern, dass noch mehr Syrerinenn und Syrer in die Türkei flüchten. 3,6 Millionen Geflüchtete hat das Land bereits aufgenommen. „Eine neue Welle von syrischen Flüchtlingen würde Ankara vor ernsthafte politische, wirtschaftliche und humanitäre Herausforderungen stellen“, sagte Dareen Khalifa von der International Crisis Group (ICG). Das Land versuche daher eine „Balance“ zwischen seinen Interessen zu finden, Idlib nicht an Damaskus fallen zu lassen und gleichzeitig „die Beziehungen zu Moskau zu pflegen und eine riskante Konfrontation zu vermeiden“, sagte Khalifa weiter.

Die syrische Regierung hingegen will die gesamte Provinz zurückerobern. Sie hat bereits Gebiete entlang der strategisch wichtigen Autobahn M4 eingenommen, die die Metropole Aleppo mit Latakia verbindet, der Hochburg der Herrscherfamilie Assad. Verfolgt Damaskus diese Strategie weiter, würde Ankara „etwas im Austausch dafür wollen“, sagte der Politologe Balanche. „Meiner Meinung nach ein neues kurdisches Gebiet.“ In den vergangenen Jahren hat die Türkei mit ihren syrischen Milizen bereits mehrere Gebiete der kurdischen Minderheit in Nordsyrien erobert.

„Neuer Gazastreifen“

Eine syrisch-russische Offensive gegen Idlib würde „einen frontalen Zusammenstoß mit der türkischen Armee“ bedeuten, sagte ein westlicher Diplomat und verwies darauf, dass die Türkei bereits 15.000 Mann in der Enklave habe. Die Folge wären Millionen Vertriebene und „eine direkte Bedrohung der Türkei und des Westens durch bestimmte terroristische Gruppen“.

Gebiete der Islamisten könnten als „türkisches Protektorat“ bestehen bleiben, als „neuer Gazastreifen“, sagte der Politologe Balanche. „Ein schmaler Streifen unter der Kontrolle von islamistischen Gruppen wie HTS, die eine Flüchtlingsbevölkerung verwalten – abhängig von internationaler humanitärer Hilfe.“