Leuchtturmdenkmal Obereversand
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Neuer Ransmayr

Am äußersten Rand einer letzten Welt

In der Kategorie Buchneuerscheinungen spielt der Österreicher Christoph Ransmayr in einer eigenen Liga. Seit dem Welterfolg der „Letzten Welt“ und dem nachfolgenden, ewig erwarteten „Morbus Kitahara“ heißt das Prinzip Ransmayr: eigenes Buchformat in seinem Hausverlag, Sperrfristenkult wie bei einem Pop-Album und ein selbst gemachter, turmhoher Erwartungsdruck. So muss das neue Werk „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ auf gerade einmal 220 Seiten alles sein: mythologische Parabel, Familiendrama und Umwelt- und Gesellschaftsdystopie zum Krieg um die verknappte Ressource Wasser. Wer schwindelfrei ist und ohne Angst vor Tabus, wird sich von diesem dichten Werk belohnt sehen.

An den wirklich großen Autoren müssen sich die Geister scheiden. Ransmayr spielt in dieser Liga – und den Fan wird man an dieser Stelle kaum überzeugen müssen. Weswegen man gerne auf seine Kritiker hören mag, die sich an der Überkonstruiertheit seiner Romane stoßen und an der Überdehnung von Ransmayrs Sprachbildern laborieren.

Auch mit seinem jüngsten Werk bleibt Ransmayr bei seinem Bauplan, gerade das scheinbar Nahe durch einen Blick des Exotismus und der stilisierten Verfremdung zu brechen. Aber da, wo er die Vorstellungswelt seines Publikums befeuert, weil er wie immer auf Bildwirkung setzt und seine Texte so inszeniert, als seien sie Gesetz, rüstet er zumindest am Anfang des Romans ab: Alles wird knapper, bekommt mehr Leerraum zwischen den Konstruktionen – und ist entschleunigt und klarer. Jede Story braucht einen klaren Antrieb, der zu benennen ist. Und das tut Ransmayrs Ich-Erzähler.

Der Fall des Menschen

„Mein Vater hat fünf Menschen getötet“, schreibt dieser im ersten Satz dieses Werks. Er ist der Sohn eines Schleusenwärters, der in der Welt Ransmayrs „Fallmeister“ heißt. Und diese Fallmeister sind tatsächlich so etwas wie die Götter dieser Welt, regulieren sie doch die Wasserstände der unter ihnen liegenden Flüsse und ermöglichen den Menschen, diese zu befahren und die Flusslandschaften zu bewirtschaften. Die Postmoderne (so dieses Wort überhaupt noch in Konjunktur ist) will es, dass mit der Gestalt des Fallmeisters natürlich auch der Gang der Geschehnisse und der Erzählung angetrieben und reguliert wird. Die Welt ist bei Ransmayr alles, was der Fallmeister ist, könnte man mit Wittgenstein zu diesem Setting kalauern.

Der Sohn, der als Hydrologe dem Metier und dem „Gesetz“ des Vaters treu geblieben ist, hat nicht nur den Ursprung einer Tat zu klären und diese zu bewerten – er muss auch das Verschwinden des Vaters ein Jahr nach der Katastrophe rund um die geöffnete Schleuse ergründen. Denn die Geschichte betrifft das Schicksal von fünf Opferfamilien. Und sie betrifft die eigene Familie ebenso in dieser von Ransmayr konstruierten dystopischen Welt.

Christoph Ransmayr vor dem Wiener Theseustempel
Deak Marcus E. / Verlagsgruppe News / picturedesk.com
„Geschichte ereignen sich nicht. Geschichten werden erzählt“, sagt der Weltreisende Christoph Ransmayr, der sich von der Topografie her einer Landschaft ähnlich seiner Herkunft annähert

Eine rätselhafte Verwandlung

Der Sohn will die Gründe für das Verschwinden des Vaters erfahren. Er sucht Klarheit „über die rätselhafte Geschichte der Verwandlung eines von der Vergangenheit geradezu besessenen Mannes in einen von seinen Nächsten und Liebsten und allen guten Geistern verlassenen Menschen, der bereit war, zu töten“. Offen bleibt zunächst, wie sehr seine eigenen Projektionen eine Rolle spielen für eine Suche, die er aus großer Ferne startet. Was er bei seinem Unterfangen übersieht, ist der Verlust der eigenen Schwester Mira. Sie wird sich dem Schicksal der Familie und dem ihrer eigenen Krankheit am Ende der Welt, dort wo das Meer die Konturen der Küste auflöst, entziehen.

Mira, die knapp ältere Frau, ist das Scharnier dieses Romans zum Mythos. Immer wieder wird sie sich in der Vorstellung des Helden, der sich zwar als Pharao imaginiert, aber herumirrt wie Odysseus und in der Schwester die vermeintliche Ehefrau sucht, verwandeln – und jedem Zugriff des Mannes entziehen. Ja, in der Kindheit entschied sie über das Sein oder Nichtsein des Mannes.

„Wenn ich dann auf ihrem Bett lag“, so erinnert sich der Erzähler am Anfang an die Präsenz der Schwester in seinem Leben in einer der vielleicht schönsten Szenen des Romans, „beugte sie sich manchmal über mich und ließ Strähne um Strähne ihres Haars über mein Gesicht fallen, einen nach Wasser und Lavendelseife duftenden Schleier, und flüsterte: ‚Niemand sieht dich. Nur ich. Niemand findet dich. Nur ich. Niemand weiß, wo du bist. Nur ich. Ich mache dich unsichtbar. Du bist unsichtbar.‘“

Mythos trifft auf „Nachsommer“, trifft auf Utopismus

Die Welt bei Ransmayr, sie wirkt wie am Modell des Stifter’schen „Nachsommers“ geschult. Es ist eine Welt, die durch einige Bezüge bekannt und lokalisierbar erscheint, etwa durch den Verweis auf die Berge und die Salzgewinnung. Doch Ransmayrs Roman spielt in einer Zeit, da das mögliche Europa, das er hier beschreibt, abgedriftet ist in eine Welt rivalisierender Kleinstaaten.

Die neuen Kleinstaaten, sie haben sich in diesem Roman alte Namen gegeben. „Kommissariate, Republiken, Grafschaften, Alpenbezirke, Matriarchate, Patriarchate, Herzogtümer und welche Namen sich die Zwerge auch immer gaben – jede Scherbe wollte ihre eigene Hymne, ihre eigene, grotesk kostümierte und bis zum Staatsbankrott hochgerüstete Armee“, liest man da. So unterschiedlich diese Zwergstaaten auch gewesen sein mögen, heißt es im Text, so hätten doch alle eine Gemeinsamkeit: Jeder dieser Staaten hielt am Glauben „einer nahezu vergessenen kontinentalen Größe mit fanatischer Beharrlichkeit fest: Der jeweils andere stand in der Ordnung der Welt unter dem eigenen Rang.“

Christoph Ransmayr im Interview

Ein Roman, der eine Welt in den Blick nimmt, die sich bereits für die Zerstörung der Natur durch den Menschen an ebendiesem dafür rächt. Darüber schreibt der österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“.

„Wer an diesem Abschnitt geboren wurde, galt als rein“

Wer am „Weißen Fluss“ geboren wurde, der bekam in der neuen Welt ethnisch reiner Staaten einen klaren Platz zugewiesen: „Wer an diesem Abschnitt (…) geboren war, galt als rein und durfte nicht bloß, sondern musste bleiben.“ Auf der ganzen Welt brechen „nach dem Ende der fossilen Energien“, wie es heißt, immer wieder „Wasserkriege“ aus. Die Weltordnung garantieren Konsortien unterschiedlicher Hydrologie-Organisationen, die auch eine Form neuer Kolonialisierung der Wasserwirtschaft organisieren. „Wer die Wasserwege kontrolliere“, erinnert die Schwester, „beherrsche bald auch die Ziele selbst, die Häfen, das feste Land.“

Der Erzähler gehört der „Rotterdammer Schule“ an, muss aber beim Klären der Familiengeschichte erleben, wie die Kriege zwischen Konsortien auch sein eigenes Schicksal betreffen. Den Standort in dieser kafkaesken und Orwell’schen Welt bestimmen unsichtbare Mächte. Zwischenmenschliche Gefühle bleiben im Kosmos Ransmayrs ausschließlich dem familiären Kreis vorbehalten. Eine Gefühlswelt außerhalb dieses Kreises bleibt in diesem Roman ausgespart.

Buchcover Der Fallmeister von Ransmayr
S. Fischer Verlag

Buchhinweis

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. S. Fischer, 226 Seiten, 24,95 Euro.

Der Kern einer brüchigen Welt

Die Familie steht überhaupt als einziger Garant in dieser Weltordnung da. Die Welt des Vaters, dessen Gesetz in der Kraft der Drohung liegt, die Sorge der Mutter um das Wohl der Kinder und die Innigkeit zwischen Schwester und Bruder – sie konturieren den Kosmos im Rückblick des Erzählers. Aus großer Distanz sucht er den Weg zur Familie, muss diesen aber durch die unerklärliche Tat des Vaters beschreiten.

Die Mutter ist der Familie freilich schon lange vor der Tat des Vaters durch die Rassengesetze im Kleinstaat Bondon abhandengekommen. Von „Deportation“ als einem mittlerweile gewöhnlichen Vorgang im Staat ist die Rede, von der Wut des Sohnes, der dem Konvoi mit der Mutter Steine nachwirft, aber erkennen muss, dass die Mutter auch durchaus gewollt der Ehe mit dem Vater entkommen will, und sei es um den Preis des Verlusts der Kinder.

Alles ist vorherbestimmt

Über allen Handlungen im Roman schwebt eine dauernde Drohung der Ausweglosigkeit und Unabwendbarkeit. Alles scheint wie im antiken Mythos vorbestimmt, ja liest sich wie eine biblische Parabel. Am Ende der Welt etwa wird die Schwester wieder die Sprache der Mutter sprechen können.

Die Begegnung des Erzählers mit Mira zum Ende des Romans wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Der Duktus der Langsamkeit und der Ordnung kommt ins Wanken, alles, was gesagt wird, beschleunigt sich, als würde der Roman von der bedächtigen Stifter’schen Dystopie in ein Tableau von Hieronymus Bosch gedrängt. Der Fall der Familie und der Weltenfall werden eins in diesem mythisch-biblischen Kosmos: Einer, der auszog, ein Rätsel zu lösen, gerät in den Strudel unentwirrbarer Fragen. „Vergebung“ heißt das letzte Kapitel des Romans – und es bringt eine überraschende Wende in der Suche des Erzählers nach dem Vater. Das letzte Wort, es liegt bei Ransmayr bei der Liebe und beim Meer. Und es bedient die uralte Sehnsucht, dass „die Erzählung Wirklichkeit“ werde.

Karge Küstenlandschaft an der Insel Krk
GH / ORF.at
Zwischen Land und Meer klärt sich auch das Schicksal von Ransmayrs Familiengeschichte: „Cherso war bis zu den Schmelzwasserfluten nach der Eiszeit der Gipfel eines durch fruchtbare Täler verbundenen Gebirgszugs gewesen und erst durch die Erwärmung (…) zum Teil eines umbrandeten Archipels geworden.“

Ein Paddel im Strom der Zeit

An keinem Punkt macht Ransmayr ein Hehl aus der Künstlichkeit seines konstruierten Kosmos. Sein Roman will alle Register von Kunst ziehen und scheut auch nicht vor dick aufgetragenen Bildern, etwa, wenn er den Erzähler sagen lässt: „Ich schlug also mein Paddel in die Zeit und lenkte meinen Kajak in all ihre Richtungen, ohne je eine Gegenwart zu erreichen.“

„Land und Meer“ als Ordnungsrahmen für das gesamte menschliche Dasein bis hin zum Charakter des Rechts hat der Staatstheoretiker Carl Schmitt in seinem gleichnamigen Werk als Nomos der Erde benannt. Unterschiedliche Auffassungen der Nationen und Staatsmänner von Politik, Krieg, Feindschaft, Recht und Humanität wurzelten laut Schmitt im eigenen Verhältnis zum Raum.

Ransmayr ist aus der Ferne auf das Territorium seiner eigenen Herkunft zurückgegangen und macht den Dichter wieder zum Seismografen auf einem brüchig gewordenen Boden. Noch einmal ist da jemand aus der Ferne der eigenen Reisen in die letzte Welt zurückgebogen – und sucht die Antworten doch bei sich selbst und der Kraft der Erzählung: „Nach jener Sage, die Mira und ich von Jana wieder und wieder hören wollten, lebten am Seegrund nicht nur leuchtende, nie gesehene Wesen, sondern es stiegen von dort in jeder ersten Vollmondnacht eines neuen Jahres auch Bußgesänge aus einer versunkenen Kathedrale empor, die mit samt ihren Erbauern in einem jahrhundertelangen Regen untergegangen war.“