Frau vor Schaufenster vor Hasen in Sachsen
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Locked im „Corona-Camp“

Die Pandemie und das richtige Maß

Ost-Lockdown zu Ostern und Appelle aus der Medizin, doch jetzt noch „einmal“ durchzuhalten, um mittels Impfung zu einem halbwegs sicheren Sommer zu kommen: Die Durchhalteparolen wirken auf einen Teil der Bevölkerung verständlich, für die anderen haben die Maßnahmen jede Dimension verloren. Die große systemische Selbstreflexion während des Pandemiekampfes scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch gibt es einige Maßzahlen, die einem helfen können, zwischen der Angst vor Impfnebenwirkungen und der Folgenbekämpfung durch CoV nicht gänzlich die Orientierung zu verlieren.

Die Debatte über das richtige Maß in der Pandemiebekämpfung ist in den letzten Wochen heftiger geworden, begleitet uns aber seit dem ersten Lockdown. „Je unkontrollierbarer das Infektionsgeschehen, je kürzer der Horizont für Handlungszwang und je erschöpfter unsere Geduld, umso höher der soziale Druck und desto schärfer die Konflikte“, konstatiert der Sozialforscher Bernd Marin in einem eilig herausgegebenen Band zur Welt „nach dem Corona-Camp“, das nun vorliegt, aber sich auch an laufenden Entwicklungen wie den Effekten der britischen CoV-Varianten messen muss.

Der Sozialforscher sucht die Einordnung, das große Bild – und den Abgleich mit den Grunddaten und sieht sich so wie mancher Intensivmediziner vor der Situation, immer wieder an die Dimensionen von Handlungen und das „richtige Maß“ auch in der jetzigen Krise zu erinnern.

Beispiel Impfdebatte

Intensivmedizinerinnen und -mediziner und Epidemiologen und Impfexperten kämpfen gegen den Strom einer Berichterstattung, die jeden einzelnen aufkommenden Verdachtsfall einer starken Nebenwirkung aufzugreifen sucht. Reflektierte Medien möchten nicht in den Verdacht kommen, in der aufgeheizten Debatte – Stichwort: „Systemmedien“ – etwas nicht beleuchtet zu haben. Dabei kämen aber die Maßstäbe vollkommen abhanden, konstatierten zuletzt die Wiener Intensivmedizinerin Eva Schaden vom Wiener AKH und ihr Kollege Cihan Ay in der Ö1-Sendung „Medizin und Gesundheit“.

Die diskutierten Thrombosefälle stellten „ganz seltene“ Formen einer möglichen Reaktion da, so etwa Experte Ay, die aber in keiner Relation stünden zu den Folgen der Erkrankung, wo das Risiko einer Thrombosefolge deutlich höher sei als in der augenblicklichen Debatte über den Impfstoff von AstraZeneca. „Jedem Fall muss man nachgehen“, erklärte Ay, „aber man darf das Gesamtbild nicht vergessen, und die Diskussion muss von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.“ Nicht zuletzt gehe es auch um die Frage, wie häufig thrombotische Komplikationen im Verhältnis zum normalen Auftreten von Thrombosen in der Bevölkerung seien.

Mayr über das Infektionsgeschehen

Was müsste aus wissenschaftlicher Sicht getan werden, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen? Günther Mayr, Leiter der ORF-Wissenschaft, gibt Antworten.

Seine Kollegin Schaden assistierte, dass man gerade im Moment im Bereich der Intensivbehandlung deutlich mehr schwere Thrombosen zu behandeln habe, als bei der Impfung auftreten könnten. Auch sie stellt fest, dass die Menschen von den Einzelfällen, aber auch der medialen Berichterstattung verunsichert seien.

Intensivmedizinerin Eva Schaden
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Intensivmedizinerin Schaden: „In der Impfdebatte nicht den Blick für das Gesamtbild verlieren.“

Schwierigkeiten der Selbstbeschreibung

Dass die Selbstbeschreibung der Angemessenheit von Maßnahmen innerhalb einer Pandemiebekämpfung schwerfalle, konstatiert auch Sozialforscher Marin. Doch man könne sich gerade bei historischen Vergleichen an der Faktenlage orientieren. So verbiete sich für ihn ein Vergleich der jetzigen Situation mit der der Spanischen Grippe schon deshalb, weil man die Viren als Ursache der Grippe von 1918 erst Jahrzehnte später als Ursache habe identifizieren können. SARS-CoV-2 habe man im Jahr 2020 bereits nach zwei Wochen klar als Grund benennen können.

Marin gesteht auch ein, dass man den Erfolg einer Seuchenpolitik immer von ihrem Ende her bemessen könne, auch wenn er wie viele daran erinnert, dass wir nicht nach, sondern „mit Corona“ leben lernen müssten. Und auch wenn man jede Seuchengeschichte erst von Ausgang und Ende her beurteilen werde, so ist sich Marin mit Blick auf das „westliche Seuchenmanagement“ sicher, dass man in der Pandemiepolitik größtenteils versagt habe. Als Konsequenz empfiehlt Marin, aus der Analyse gescheiterter Bemühungen und vergangener Misserfolge zu lernen, etwa durch langfristige Frühwarnsysteme und rechtzeitige Präventionspläne.

Geänderte Spielregeln, Chancen fürs Umsteuern

Durch die CoV-Krise sei das Regierungsprogramm von Türkis-Grün sehr rasch „hinweggerafft“ worden, weswegen es neu aufgesetzt werden sollte und mit dem „Neustart und Reset aus der Corona-Krise auch Umwelt-, Klima-, Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Pflege- und Pensionsysteme allmählich auf Nachhaltigkeit umzustellen“ wären.

Selbst im Krisenbudget 2021, so erinnert Marin an seine bekannte Rolle als Kassandra zum Pensionssystem, blieben die Pensionen mit fast einem Viertel des Volumens weiterhin der weitaus größte Ausgabeposten.

Cover des neuen Buches von Bernd Marin
Falter Verlag
Bernd Marin, Die Welt danach. Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona-Camp, Falter Verlag, 140 Seiten, 12 Euro.

So helfe eine bloße Anhebung des Pensionsalters nicht, wenn es hinter den „tatsächlichen Lebendigkeitszuwächsen von zuletzt 71 bis 101 Tagen jährlich“ zurückbleibe. „Wie sich echte Schwarze und Grüne in dieser türkis-blauen und retroroten Pensionswohlfühlschummelei wiedererkennen können“, sei ihm „rätselhaft“.

Keine Scheu vor Erbschaftssteuer

In der Gegenfinanzierung der Folgen der CoV-Krise empfiehlt Marin eine nachhaltige und faire Pflegeversicherung – und er schreckt auch nicht vor der Forderung nach der Besteuerung von Vermögen – Stichwort: Erbschaftssteuern – zurück. Marin erinnert dabei an konservative Denker ebenso wie den liberalen Leitstern John Stuart Mill, der die „freiheitsgefährdende Reichtumskonzentration“ bei jenen kritisiert habe, „die nicht zur Entstehung des Vermögens beigetragen“ hätten.

Pandemie und Generationenvertrag

Die Pandemie werde Auswirkungen auf das Verhältnis der Generationen haben, ist sich Marin ebenso sicher. Einerseits, weil man Covid-19 zunächst als eine „Altersseuche“ bezeichnet habe und die zu schützenden Älteren als klares Ziel der Gesundheitspolitik benannt habe. Andererseits konstatiert er, dass „die indirekten Kosten der jüngeren Opfer zweiter Ordnung in Lebensjahren, Gesundheit und humanen Schäden viel komplexer und schwieriger zu berechnen sind als die einfache Leichenzählung pandemiebedingter Todesfälle Älterer“ (eine Einordnung, die definitiv noch vor den Zahlen der britischen CoV-Variante zustande gekommen ist, Anm.).

„Erst die illusionslose Kenntnisnahme erlittener Verluste wird uns wieder frei machen für neue Lebenschancen“, so Marins Ausblick für ein Leben „nach dem Corona-Camp“. Nur unter dieser Prämisse könne der Fokus auf die Vielfalt erreichter Wissenszugewinne, diagnostischer und therapeutischer Erfolge fallen. „Ungeahnter Kollateralnutzen“ ist eines der Zauberwörter in seinem Buch. Damit sich daraus „der Treiber für eine Welle sozialer Innovationen“ entwickeln könne, wie Marin hofft, wird man manche Erkenntnis noch besser sortieren müssen.